Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

1. Juni bis 28. Juni

Die einheitliche Regelung des Verkehrs mit Kraftfahrzeugen innerhalb des Reichsgebietes ist jetzt durch Beschluß des Bundesrates erfolgt. Aus der Verordnung, die mit dem 1. Oktober 1906 in Kraft tritt, nachstehend die wichtigsten Bestimmungen in kur-zen Auszügen:

Die Kraftfahrzeuge müssen so eingerichtet sein, daß Feuer- und Explosionsgefahr sowie die Gefährdung von Personen und Fuhrwerken durch Geräusch, durch Entwicklung von Rauch oder Dampf oder durch üblen Geruch ausgeschlossen ist. Jeder Kraftwagen, dessen Eigengewicht 350 kg übersteigt, muß vom Führersitz aus in Rückwärtsgang gebracht werden können. Der Polizeibehörde des Wohnortes muß der Eigentümer eines Kraftfahrzeuges eine schriftliche Anzeige über die Beschaffenheit und den Bau vorlegen. Der Anzeige muß das bestätigende Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen beigefügt sein. Jedes Kraftfahrzeug muß das polizeiliche Kennzeichen tragen. Alle Manipulationen, welche dahin zielen, ein sicheres Erfassen des Kennzeichens zu erschweren, sind strafbar.

Der Führer muß mit den Einrichtungen und der Bedienung des Fahrzeuges völlig vertraut sein und hierüber ein von der Behörde ausgestelltes Zeugnis ausweisen. Die Fahrgeschwindigkeit muß so eingerichtet sein, daß Unfall- und Verkehrsstörungen vermieden werden. Auf unübersichtlichen Wegen, insbesondere nach Eintritt der Dunkelheit, bei Straßenkreuzungen usw. muß so langsam gefahren werden, daß auf einer Wegstrecke von höchstens fünf Metern das Fahrzeug zum Halten gebracht werden kann. Warnungszeichen dürfen nur mit eintöniger Hupe abgegeben werden.

Die Benutzung öffentlicher Wege und Plätze ist strengstens geregelt und zwar derart, daß einzelne Straßen und Plätze gänzlich für den Kraftwagenverkehr gesperrt werden können. Wettfahren auf öffentlichen Wegen und Plätzen ist verboten. Die Polizeibehörde kann jederzeit auf Kosten des Eigentümers eine Untersuchung darüber anstellen, ob ein Kraftfahrzeug den von der Behörde angeordneten Bestimmungen entspricht. Zuwiderhandlungen werden in Gemäßheit des Paragraph 366 Nr. 10 des Reichsstrafgesetzbuches mit Geldstrafe bis zu 60 Mark oder mit Haft bis zu 14 Tagen bestraft.

Auf Antrag können von diesen Vorschriften ausgenommen werden: leichte, nur für den Stadtverkehr bestimmte Personenkraftfahrzeuge und Geschäftswagen, die in deutlich erkennbarer Form mit der Firma des Geschäftes versehen sind.

Beide Patienten der Privatirrenanstalt des Dr. M. in Bernau galten bisher als ruhig und ungefährlich.

Ermordung eines Irrsinnigen in einer Privatirrenanstalt: Von einem Irren wird in der Privatirrenanstalt des Dr. M. in Bernau ein ebenfalls dort internierter Geisteskranker mit einem Küchenmesser erstochen. Beide Patienten waren bereits seit anderthalb Jahren in der Anstalt. Da sie bisher als ruhig und ungefährlich bekannt waren, trug der Leiter der Anstalt kein Bedenken, beiden den gemeinsamen Besuch des Gartens zu gestatten. Kaum hatten sie diesen jedoch betreten, als der ältere von ihnen sich auf seinen Leidensgenossen stürzt und ihm mit einem blitzschnell hervorgezogenen Küchenmesser in entsetzlicher Weise den Hals zerfleischt, bevor die Wärter ihn entwaffnen und einsperren können.

Auf tausend Jahre Familiengeschichte darf das altadelige, heute noch blühende Geschlecht der Tschudis zurückblicken. Nachkommen der Familie Tschudi von Glarus sind in Berlin der Direktor der Königlichen Nationalgalerie, ferner Oberstleutnant von Tschudi und der bekannte Luftschiffer und derzeitge Führer der Junker-Abteilung, Hauptmann von Tschudi. Dann leben noch Tschudis, allesamt Offiziere, teils aktiv, teils im Ruhestand, in Wiesbaden, Nauheim, Soest und Torgau.

Alle die heute noch lebenden Mitglieder stammen von einem Manne ab, der, ein Leibeigener des deutschen Königs Ludwig III., von diesem vor nunmehr tausend Jahren, am 31. Mai 906 feierlichst zum freien Manne erklärt worden war. Der ausgestellte Amtsbrief ist das älteste noch existierende Originaldenkmal des Standes Glarus, des Stiftes Säckingen und der Tschudischen Familie zugleich. Eine spätere Urkunde vom Jahre 1029 besagt, daß Johann ein Lehnsmann von Säckingen, Meier von Glarus und ein Tschudier gewesen sei. Tschudier bedeutet soviel wie Ausländer, ein Beweis, daß auch der Leibeigene König Ludwigs kein glarusischer Landmann war. Die Original-Urkunde der Freisprechung des Leibeigenen Johann Tschudi ist heute noch vorhanden. Die Freisprechung geschah nach dem Salischen Gesetz. Man gab dem Leibeigenen in Gegenwart der gehörigen Zeugen einen Denarier in die Hand, als ein Zeichen des Lösegeldes, das der König dem Freigesprochen aus der Hand schlug.

Falko Hennig

Foto: Archiv Hennig

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„Sound of 1900, das Lautarchiv der Humboldt-Uni" mit Jürgen Mahrenholz am 28. Juni, im Kaffee Burger um 20.30 Uhr, mehr unter www.Falko-Hennig.de

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