Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

30. März bis 26. April

Gedrängt voll und mit stickiger Luft gefüllt ist der Gerichtssaal am 31. April zum Prozeß gegen den des Raubmordes an dem Kellner Giernoth angeklagten Lederarbeiter Rudolf Hennig. Hennig behauptet, daß mysteriöse Komplizen, mit denen er Giernoth ausraubte, ihn ermordet hätten. Der Präsident fragt: „Haben Sie dem Giernoth alle drei den Revolver vorgehalten?" – Hennig: „Ja, alle drei." – Präsident: „Na, dann waren Sie wohl bereit, ihn niederzuschießen?" – Hennig: „Nein, es war bloß auf eine Drohung abgesehen." – Präsident: „Also, wenn Giernoth das Geld nicht gegeben hätte, hätten Sie wahrscheinlich gesagt: Adieu, Herr Giernoth, es tut uns leid, daß wir unsere Absicht nicht erreicht haben, nehmen Sie es nicht übel, wir wünschen Ihnen glückliche Reise! Überdies, wenn Sie alle drei um den Mann herumstehen und der dritte knipst los, sind Sie dann nicht auch dem Mörder gleich zu achten?" – Hennig: „Nein, es war von Anfang an ausgemacht, daß so etwas nicht geschehen soll."

Als Hennig behauptet, in Damenbegleitung in den Winzerstuben, im Kaiser-Café und im Café Skandinavia gewesen zu sein, kommt im Saal Heiterkeit auf

Kriminalinspektor Braun hat bei seinen Recherchen keine Anhaltspunkte für die Existenz von Komplizen finden können, in allen Lokalen, die überprüft worden sind, ist er allein gewesen. Hennig: „Das ist nicht richtig! Ich bin in den Winzerstuben, im Kaiser-Café, im Café Skandinavia mit Damen gewesen, dazu kann ich doch keinen Mann gebrauchen!" Im Saal kommt Heiterkeit auf. Braun: „Der Angeklagte hat reichlich Gelegenheit gehabt, nach dem angeblichen Franz zu suchen. Er hat 44 Bände des Verbrecheralbums mit 20000 Photographien durchgesehen und schließlich eine Photographie bezeichnet, neben welcher geschrieben stand: ‚Aus Elbing ­ etwas Näheres über seine Person nicht bekannt.'" ­ Präsident: „Da liegt es doch nahe, daß Sie sich gerade diesen herausgesucht haben!" ­ Hennig: „Das ist wieder eine Hypothese!"

Medizinalrat Dr. Hoffmann-Berlin hat keinen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Hennigs, obwohl der im Gefängnis versucht habe, den wilden Mann zu spielen. Er fing an, eine Viertelstunde laut um Hilfe zu schreien, gab blödsinnige Antworten, sprach alles nach, wußte seinen Namen nicht. Stutzig machte die Ärzte, daß sein Pulsschlag unverändert blieb und daß er alles Gesprochene wiederholte, doch als sie ihm vorsagten: „Hennig hat Giernoth erschossen", schwieg er und schüttelte den Kopf. (Heiterkeit.) Ebenso schnell wie die Krankheit gekommen sei, verschwand sie auch wieder.

Kriminalschutzmann Petschak macht von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, weil er sich der fahrlässigen Gefangenen-Entweichung schuldig gemacht hat, keinen Gebrauch. Er schildert die Verhaftung Hennigs in der Choriner Straße. Beim Fortgehen mit den Beamten hatte Hennig damals der Wirtin gesagt, er werde in einer Viertelstunde zum Kaffee wieder zurück sein. Daß der Angeklagte einen Revolver hatte oder es sich um Hennig handle, habe er nicht geahnt, sonst wäre die Sache nicht so gekommen.

Heftig weinend tritt ein tiefbekümmerter Greis, der 64jährige Vater des Angeklagten, der Invalide Hennig hervor, dessen Brust eine Reihe Kriegsdenkmünzen und Auszeichnungen schmückt. Der Vorsitzende: „Wir können Ihren Schmerz sehr wohl begreifen, Vater Hennig. Als Vater können Sie Ihr Zeugnis verweigern. Zur Sache selbst werden Sie ja wohl wenig sagen können. Daß ihr Sohn Ihnen viel Kummer bereitet hat, wissen wir schon." Vater Hennig heftig schluchzend: „Ich will keine Aussage machen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn zu einem guten Sohn zu erziehen, und ihm immer wieder die Hand zur Besserung geboten."

Hennigs Plädoyer: Wenn die Geschworenen allem auf den Grund gehen, würde keiner von ihnen zu einer anderen Überzeugung kommen, als daß doch keine Beweise gegen ihn vorliegen. Sie werden sagen müssen: Der Mann, der Hennig, ist des Mordes nicht überführt: „Ich habe den Raub zugegeben, aber den Schuß habe ich nicht abgegeben. Ein schneller Tod wäre für mich besser als langjähriges Zuchthaus. Unter 15 Jahren würde ich nicht bekommen. Ich bin 31 Jahre alt, und wenn ich 15 Jahre dazu bekomme, wäre ich 46 Jahre. Das ist schon wie ein Todesurteil. Ich habe den Raub begangen, ich will mich nicht reinwaschen und habe viel auf dem Kerbholz."

In der 11. Abendstunde wird das Urteil gefällt. Die Geschworenen bejahen die vom Staatsanwalt Dr. Mendelssohn gestellte Schuldfrage auf Mord. Hennig wird wegen Mordes und Raubes zum Tode verurteilt, wegen schwerer Urkundenfälschung, Betruges und Körperverletzung ferner insgesamt zu 5 Jahren Zuchthaus und lebenslänglichem Ehrverlust. Der Revolver wird eingezogen, die Kosten des Verfahrens trägt Hennig.

Falko Hennig

Foto: Archiv Hennig

* Radio Hochsee: Themenabend Shel Silverstein mit Dr. Manfred Maurenbrecher am 26. April, 20.30 Uhr im Kaffee Burger, Torstraße 60, Mitte, mehr unter www.Falko-Hennig.de

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