Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Vom Musikvirus befallen

Unsere Mitte hat einen schlechten Ruf. Zuviele Trendboutiquen, zuviel Business. Zuviele totsanierte Wohnungen, zuviele Regierungsbüros. Man trauert den Freiräumen nach und schwelgt nostalgisch in Zeiten, als man Kneipen wie den Schokoladen in der Ackerstraße nicht suchen mußte. Doch es gibt zum Glück auch anderes: Projekte wie den Chor studiosi cantandi, die trotz aller Widerstände funktionieren und Mitte zu einer blühenden Kulturlandschaft machen.

Seit 15 Jahren treffen sich etwa 50 Leute jeden Montag auf einem zweiten Hinterhof, um gemeinsam Musik zu machen und für jeweils zwei Konzerte im Frühling und im Herbst zu proben. Wer dabei an konservative Spießer denkt, weil es sich um sogenannte Ernste Musik handelt, der hat noch nie etwas vom Musikvirus gehört, das jeden befällt, der selber einmal in einem Chor z.B. Bach gesungen hat. Denn das ist im wahrsten Sinne des Wortes erhebend.

Der Chor studiosi cantandi ist eine geglückte Wendegeschichte, kommen die Sänger doch aus Ost und West, mit zunehmender internationaler Verstärkung, was beweist, daß Musik immer noch eine universale, völkerverbindende Sprache ist. In lockerer, doch produktiver Atmosphäre wird zur Zeit die Johannespassion von Johann Sebastian Bach geprobt; letztes Jahr stand das Requiem von Duruflé auf dem Programm. Nach der Montagsprobe trifft man sich im Schokoladen, der Stammkneipe, bei deren Hoffest man auftritt und sich gelegentlich von den Chris Richie Brothers, ebenfalls Chormitglieder, die Dröhnung U-Musik gibt.

Der finanziell ums Überleben kämpfende Laienchor studiosi cantandi bringt Konzerte von hoher Qualität zustande, was zum großen Teil dem professionellen Leiter Norbert Ochmann zu verdanken ist, der es schafft, selbst Leute, die sonst Heavy Metal hören, für klassische Musik zu begeistern. Und natürlich allen, die mitsingen, sich engagieren und glauben, daß man die Szene nicht suchen muß, sondern selber macht.

Christine Pfammatter

* Aufführungen der „Johannespassion" am 8. April in der St. Matthäuskirche, Tiergarten, und am 9. April in der Segenskirche, Prenzlauer Berg, www.studiosi-cantandi.de

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