Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wer nicht arbeitet, soll eben doch essen

Ein Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Engler über die Zukunft der Arbeit.

Arbeitsgesellschaft in der Krise: Unaufhaltsam steigen seit Jahren die Arbeitslosenzahlen, sinkt die Zahl versicherungspflichtiger Jobs. Hoffnungen auf ewiges Wachstum, demographische Erlösung oder die Dienstleistungsgesellschaft haben sich als Chimäre erwiesen. Dennoch wird weiter an der Ideologie der Vollbeschäftigung festgehalten: Nun sollen Arbeitszeitverlängerung, Lohnkostenreduzierung, Mobilmachung der Arbeitsfähigen, sozialstaatliche Kürzungen und Reformen, verstanden als „Grausamkeiten", helfen.

Der Soziologe und Publizist Wolfgang Engler (u.a. Die Ostdeutschen als Avantgarde) thematisiert in seinem jüngsten Buch Bürger, ohne Arbeit den Abschied von der Erwerbsarbeitsgesellschaft und plädiert für eine radikale gesellschaftliche Neugestaltung, die den Zusammenhang von Arbeit und Leben entkoppelt und sich auf menschliche Grundbedürfnisse gründet.

Ihr Buch offeriert einen wahren Schreckenskatalog für Neoliberale: Sie plädieren für ein Bürgergeld und die Stärkung des Sozialstaats, für öffentliche Betreuung und Bildung für Kinder vom jüngsten Alter an; sprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit und fordern die Entökonomisierung von Politik und Gesellschaft. Eine radikale Utopie.

Ist es auch ­ jedenfalls vom Standpunkt eines ökonomischen Systems, das bei aller Relativierung dennoch an dem Grundsatz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", also an einem Äquivalent von Leben und Arbeit festhält. Stellt man das in Frage, ist man schon über den Horizont dessen hinaus, was gewollt und in der Regel auch gedacht wird.

Ist die Arbeitsgesellschaft überhaupt am Ende?

Ich würde nicht sagen, daß der Gesellschaft die Arbeit ausgeht. Gleichwohl halte ich es für gerechtfertigt, von einer Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft zu reden. Für immerhin ein Jahrhundert war das, was der französische Historiker Robert Castel die „bürgerliche Form der Lohnarbeit" genannt hat, eine Errungenschaft: Arbeit, die materiell auskömmlich war, einen rechtlichen Status hatte, mit sozialen Garantien einherging und es erlaubte, eine relativ unbeeinträchtigte Stellung in der Gesellschaft einzunehmen. Inzwischen herrscht ein Mangel an Stellen, die Arbeit nicht nur zu einer Verrichtung machen, sondern auch eine menschenwürdige Existenz in der Gesellschaft ermöglichen. Das wird, glaube ich, nicht wiederkehren. Die „gute Arbeit", die für alle reicht, gehört der Vergangenheit an.

Sie plädieren für ein Bürgergeld. Wie funktioniert das von Ihnen favorisierte Modell der Sozialdividende?

Dabei erhält jeder ohne Ansehen der Person ­ der Einkommenslose ebenso wie der Millionär ­ zunächst den gleichen Sockelbetrag, sagen wir, 1000 Euro. Wer dann eine bestimmte Einkommenshöhe überschreitet, gerät irgendwann in die Steuerprogression und gibt schließlich mehr ab, als er bekommt. Das ist das Umverteilungsvolumen für die, die nichts oder wenig haben.

Das Modell geht zwar formell mit einem größeren Umverteilungsvolumen einher, scheint mir aber die einzig konsequente Lösung zu sein. Denn die Sozialdividende zeigt jedem, daß er unter ein bestimmtes Level nicht fallen kann, und weist dadurch dieses Grundeinkommen als Geld aus, das dem Menschen als Bürger zukommt, als seine existentielle Daseinsgarantie. Statt um das Recht auf Arbeit geht es hier um das Recht auf Leben.

Ihr Bürgerbegriff meint den Menschen in seiner blanken Existenz. Wir erleben derzeit aber das Revival eines ganz anderen Bürgerbegriffs, der sich über Eigentum und Besitz definiert ­ eine Art Honoratiorengesellschaft.

Es gibt seit einigen Jahren in Deutschland eine Debatte um neue Bürgerlichkeit, allerdings mit sehr nebulösen Vorstellungen, was das wirklich sein könnte. Im Französischen unterscheidet man zwischen Bourgeois und Citoyen. Der Bürger, den ich meine, ist eher der Citoyen, also der Staatsbürger, der ­ auch wenn er keine Arbeit hat ­ alle Möglichkeiten besitzt, am kulturellen, rechtlichen und politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Dieses Geraune über die neue Bürgerlichkeit ist ohne Gegenstand, abgesehen davon, daß es die „neue Mitte" hofiert.

Wie soll das Bürgergeld finanziert werden?

Es gibt unterschiedliche Ideen, beispielsweise die einer Steuer auf Maschinen als vermeintliche Ursache des Problems, da Technisierung Leute freisetzt. Das ist eine Debatte der 1840er Jahre, der Maschinenstürmer. Doch eine Hemmung des technischen Fortschritts und des innovativen Geistes kann keine zeitgemäße Haltung sein. Denn Arbeit ist eben nicht das „an sich Gute". Lohnarbeit kann Formen des unwürdigen Existierens annehmen. Darum sollte man einen Prozeß, der Menschen auch von der Tretmühle befreit, nicht aufhalten.

Deswegen kommen eher Steuern in Frage, die weder auf Arbeit noch auf Maschinen erhoben werden, sondern auf den Konsum ­ wie die Mehrwertsteuer. So würde auch das ernstzunehmende Argument außer Kraft gesetzt, daß durch die Einführung eines Bürgergeldes die deutsche Wirtschaft in Nachteil geriete gegenüber anderen Volkswirtschaften. Letztlich bezahlt der Konsument, namentlich diejenigen, die mehr konsumieren als der Durchschnitt. So hat es auch eine Form der immanenten Gerechtigkeit. Wenn es um die Finanzierung des Sozialstaates geht, finde ich diese Idee noch am überzeugendsten.

Wir haben in Deutschland ja immer noch den Bismarckschen Sozialstaat. Was Ende des 19. Jahrhunderts fortschrittlich war, ist jedoch längst überholt. Die Sozialversicherungen über die Arbeit zu finanzieren, war bei dem damals sehr hohen Beschäftigungsgrad und einer noch erwartbaren Dauerkonjunktur eine durchaus sinnvolle Art. Wenn das aber wegbricht und die Erwerbsarbeitsgesellschaft in die Krise gerät, wird es ein völlig dysfunktionales Modell, weil dann immer weniger, die arbeiten, immer mehr Leistungen tragen müssen, und es bleiben viele draußen, die man zur Finanzierung des Sozialstaats bräuchte. Deshalb sind nicht Abgaben auf Arbeit die wesentlichen Finanzierungsquellen, sondern allgemeine Steuern plus Spekulationsgewinne, Renditen aus Grundbesitz sowie die Einkommen der freien Berufe und der Beamten. Das funktioniert in den skandinavischen Ländern sehr gut.

Und es gibt in den skandinavischen Gesellschaften einen wirklich bewunderungswürdigen Prozeß: Dort spielt das Mittelalter in der Moderne, nämlich die soziale Vererbung, keine Rolle mehr; hängt die soziale Perspektive heranwachsender Menschen in keiner Weise mehr vom Bildungs- oder Einkommensniveau der Eltern ab.

In Ihrem Gesellschaftsentwurf sind Bildung, echte Chancengleichheit und ausgleichende Gerechtigkeit wesentliche Säulen: Dem, der die schlechtere Ausgangssituation hat, soll auch mehr zugestanden werden.

Ohne eine Privilegierung der Unterprivilegierten wüßte ich nicht, wie man ein Zerreißen oder zumindest ein Strecken der sozialen Bande bis zur Unverbindlichkeit der einen mit den anderen verhindern könnte. Wenn sich Lebensweisen so voneinander separieren, daß die Herkunft zum Schicksal wird, wenn dort kein Ausgleich geschaffen wird, und zwar durch die, die aufgrund besserer Bedingungen wohlhabender und gesünder sind und länger leben, dann läßt sich der Kollaps des Sozialen kaum verhindern. So zu denken, ist nicht populär: Jeder einzelne sieht natürlich zuerst, was ihm dabei kurzfristig abhanden kommt. Doch auch die Bessergestellten hängen an denen, deren Schicksal unter schlechteren Voraussetzungen abläuft.

Arbeit ist mehr als Broterwerb: Soziale, zeitliche, räumliche Netze erfüllen Bedürfnisse über die bloße Existenzsicherung hinaus und haben die Arbeitsgesellschaft kulturell geprägt. Dann stellt sich die Frage, wie diese Bedürfnisse anders befriedigt werden können, wie ein Bildungssystem Menschen zum Handeln aus eigenem Antrieb befähigen könnte.

Das ist die kulturelle Herausforderung der nächsten Jahrzehnte schlechthin. Man kann nicht sagen, daß die Aufgabe auch nur erkannt wäre, geschweige denn, daß die Lösung vor uns läge. Selbst gesetzt den Fall, man hätte ein bedingungsloses Grundeinkommen, wäre die kulturelle Thematik davon noch gar nicht berührt: Wie kommt Sinn ins Leben, Abwechslung, soziale Bewandtnis? Wenn nicht der Beruf dem Leben Ziele, Rhythmus und Zusammenhang gibt, dann müßte das Leben selbst zum Beruf werden und ich mich regieren lernen. Das kann ich in umso höherem Maße, je zeitiger ich gelernt habe, mich zu motivieren: also mir Interessen zu geben, Aufgaben zu stellen, andere in meine Absichten zu verwickeln, für andere und mich selbst interessant zu sein. Wahrscheinlich müßte man sogar von Kindesbeinen an lernen, sein Leben auch dann in die Hand zu nehmen, wenn es kein Reglement gibt, in das man sich einfügt. Doch bei den Diskussionen über das Bildungssystem geht es immer noch darum, die Menschen fit zu machen für den Arbeitsmarkt, also die Funktionalität von Bildung zu erhöhen ­ statt den Eigensinn von Bildung. Bislang gibt es keine grundlegende Idee für ein reformiertes Bildungssystem.

Wenn Menschen in noch größerer Zahl als heute und länger das Gefühl haben, von der Zeit erschlagen zu werden, nutzlos dahinzuvegetieren ­ der Groll, der daraus entsteht, ist völlig unbeherrschbar. Wenn das 10, 20 Millionen sind, die nichts anzufangen wissen mit ihrem Leben: Soviel Ordnungskraft hat kein Staat. Das kann nicht gutgehen.

Sie argumentieren, daß im Grunde auch das Kapital auf das Bürgergeld angewiesen sei, weil es Konsumenten braucht.

Jeder Unternehmer wünscht sich eine Produktion möglichst ohne Arbeiter ­ denn die muß er bezahlen ­, gleichzeitig aber möglichst viele Konsumenten seiner Produkte. Das kann für das gesamte Kapital nicht aufgehen. Dieser Zielkonflikt, der schon im 19. Jahrhundert erkannt wurde, verlangt nun nach anderen Lösungen. Es gibt keine Rettung mehr wie früher, wo neue Berufsfelder diejenigen aufnahmen, die aus anderen herausgefallen waren.

Dann wird es zur Überlebensfrage dieses ökonomischen Prinzips, ob es eines seiner eminentesten Dogmen außer Kraft setzen kann: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen ­ oder doch zumindest weniger als die anderen. Dann müßte man Menschen, die für den Produktionsprozeß nicht mehr gebraucht werden, Konsumtionsmittel in ausreichendem Umfang zuerkennen, damit Waren und Dienstleistungen, die ansonsten gar nicht produziert würden, weil die Konsumenten fehlen, eben doch produziert werden.

Dem Dogma zufolge soll ich in genau dem Maß konsumieren, in dem ich gearbeitet habe. Und wenn ich von sozialstaatlicher Hilfe abhänge, soll mir deutlich werden, daß ich sehr bescheiden leben muß, damit ich mehr Lust zur Arbeit kriege. Wenn das aber alles nicht mehr greift, weil es keinen Witz mehr macht, müßte eigentlich eine Untreue des ökonomischen Systems gegenüber sich selbst eintreten. Es müßte auf eine radikale Lösung verfallen, eben die eines bedingungslosen Grundeinkommens, einer Auflösung des strikten Zusammenhangs von Arbeit und Konsumtion, was aber einer Systemsprengung gleichkäme.

„Der Kommunismus kommt durch die Hintertür."

Genau. Irgendwie wären dann die Unternehmer die Dummen. Die würden dann einen Produktionsprozeß am Laufen erhalten um ihrer oder seiner selbst willen, ohne andere disziplinieren zu können, da alle schon das Lebensnotwendige hätten ­ letztlich jedoch zum Nutzen der Unternehmer, die dadurch Absatzchancen haben.

Wie könnte ein solcher Prozeß beginnen?

Was am wünschenswertesten wäre, kann ich mir am wenigsten vorstellen: nämlich durch vorausschauende Planung. Das, was man am meisten fürchten muß, ist derzeit am wahrscheinlichsten: Die Einsicht, daß es so nicht weitergeht, wird wohl eher durch einen Krach ausgelöst. Auch die letzte große Innovation des Denkens über den Staat und seine soziale Rolle, über Wirtschaftspolitik und ökonomische Theorie, wurde verursacht durch die Weltwirtschaftskrise. Da kam der Keynesianismus auf, ein anderes Verständnis von staatlicher Regulierung in Bezug auf Ökonomie. Alle fragten sich plötzlich, warum der Staat nur das reproduziert, was die Wirtschaft macht. Also eine völlige Erschütterung der Heilsgewißheiten, Dogmen, Grundlehren ­ aber nicht die Vorausschau, sondern die Krise war der Lehrmeister.

Im nationalen Maßstab wäre das Modell kaum realisierbar, auch angesichts einer Wirtschaft, die oft nicht mehr klassischen unternehmerischen Interessen, sondern der Logik spekulativer, globaler Kapitalmärkte folgt.

Natürlich sind wir derzeit dazu nicht in der Lage. Die deutsche Wirtschaft ist keine Binnenökonomie. Immer größere Teile der Unternehmerschicht suchen ihr Glück in globalen Märkten. In der Tat verschafft das der Not des Kapitalismus noch eine Verschnaufpause ­ vielleicht für ein Menschenalter. Aber was, wenn die Utopie Wirklichkeit geworden wäre; wenn durch Ausgleichsprozesse von China bis nach Südamerika sich die Lebens-, Beschäftigungs- und Konsumverhältnisse soweit angenähert hätten, daß die Exit-Logik nicht mehr überzeugt?

Spätestens dann wird der Systemwiderspruch eskalieren. Und dann muß man entweder ­ um es sehr schroff zu sagen ­ die Leute einfach umbringen oder verhungern lassen, die der ökonomische Prozeß nicht braucht; oder das Menschenrecht auf Leben muß ­ damit dieser Prozeß überhaupt weiterlaufen kann ­ das erste Recht überhaupt werden. Wahrscheinlich wird das eine sehr erbitterte und vielleicht sogar blutige Auseinandersetzung, denn die Neigung des privilegierten Teils der Menschheit, die anderen, ökonomisch Überflüssigen aus dem Gesellschaftsganzen zu verbannen, wird vermutlich ungebrochen sein.

Ich sehe nicht, daß wir gegenwärtig geistig und politisch auf der Höhe dieser Problematik sind. Aber der globale Prozeß, der uns schon jetzt die Ohren sausen macht, arbeitet nicht für die Gesundbeter der Lohnarbeitsgesellschaft, sondern letztlich für eine Entzerrung von Arbeit und Konsumtion, für ein Recht auf Leben und Lebensunterhalt anstelle eines illusionären Rechts auf Arbeit, das in 100 Jahren noch illusionärer geworden sein wird, allein infolge des technischen Fortschritts.

Interview: Ulrike Steglich

* Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Aufbau Verlag, Berlin 2005. 19,90 Euro

Foto: Stefan Moses; aus dem besprochenen Band

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