Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Der untenstehende Text erschien im Gefolge einer Ende 1996 durchgeführten Umfrage unter scheinschlag-Lesern. Wir sehen davon ab, diesem Artikel einen zweiten aktuellen gegenüberzustellen, denn der Text zeigt, wie die Leser damals die Zeitung sahen bzw. ­ wie spätere Umfragen immer wieder bestätigten ­ auch heute noch sehen.

Ja, die scheinschlag-Leser sind sich offensichtlich uneins, nicht nur, was den Titel scheinschlag betrifft (über dessen Entstehung der Text „heute scheinschlag morgen steinschlag" auf der folgenden Seite Auskunft gibt). Die Redaktion war und ist allzu oft ebenso uneins, was denn scheinschlag nun eigentlich sei: ein besserer Ratgeber für Kiezbewohner, eine Stadtzeitung für alle, ein Versuchslaboratorium für journalistische Anfänger, ein Kampfblatt für gehobene Saufkultur? Oder etwas ganz anderes. Wir können und wollen die Frage nicht endgültig beantworten (entsprechend sprach sich die Redaktion auch vor ein paar Jahren gegen eine Umbenennung des scheinschlag in „Berliner Stadtzeitung" und gegen eine einseitige Profilausrichtung aus). Das sind die „Paradoxe, die keine sind" und die den scheinschlag zu dem machen, was er ist.

scheinschlag 6/97

„scheinschlag??! Was heißt das überhaupt?"

MSchade? Wieso eigentlich schade? „Ich finde es schade, daß ihr eine Leserumfrage nötig habt. Macht einfach so offen und spontan weiter. Laßt euch nicht vermarkten. Was ihr schreibt, wird wohl nicht interessanter, wenn ihr wißt, für wen ihr genau schreibt. Aber die Werbung ­ ich verstehe, leider ist Werbung so wichtig..."

Für die scheinschlag-Leserumfrage Ende letzten und Anfang diesen Jahres war beileibe nicht nur die Werbung (als Finanzierung der Zeitung) ein Aspekt. Und ganz sicher werden Artikel nicht davon interessanter, wenn wir wissen, daß der eine auch fernsieht oder der andere eher wenig als viel im Rest der Welt herumreist.

Aber schade? Schließlich ist neben dem, was scheinschlag wissen muß (weil eine Zeitung nicht unbedingt autistisch sein sollte), auch eine Menge Neugier unsererseits im Spiel ­ nicht nur darauf, wer scheinschlag liest, sondern auch auf die Ideen, Kritiken und Vorschläge. Enttäuscht wurden wir keineswegs ­ weder durch die Zahl der Einsender (im Vergleich zur letzten Leserumfrage Anfang 1995 ein Zuwachs von 62,5 Prozent), noch durch die Lektüre selbst.

Erstes Resümee: scheinschlag hat offensichtlich schöpferische, kommunikative und einfallsreiche Leser, die sich durch die kleinen Macken unseres Fragebogens nicht schrecken ließen und die freien Plätzchen (Zeitungsrand etc.) für begeisterte Zurufe oder harsche Kritik, Anmerkungen und Kommentare nutzten ­ bis hin zu politischen Bekundungen: „...bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß wir vom Regen in die Traufe geraten sind."

An dieser Stelle wollen wir deshalb keine Statistiken abrechnen (und die Schlußfolgerungen aus den Umfrageergebnissen werden noch zu ziehen sein), sondern lieber Leser zu Wort kommen lassen.

scheinschlag 12/91Foto: Philipp von Recklinghausen

Charmant und frech... bis tendenziös

„Am-Zeitungsrand-Bemerkungen" wie die eingangs zitierte wurden nicht nur genutzt, um Satzfehler und Datumsangaben einzuklagen oder Komplimente zu äußern: „Mit dem scheinschlag ist das öffentliche Leben in Berlin reicher. Bleibt frech, gut, informiert, charmant und vor allem für Leute mit wenig Geld kostenlos."

Forderungen wurden gestellt: „kritischere Auseinandersetzung mit der herrschenden Landes- und Staatspolitik, redaktionelle Arbeit mehr mit dem Ziel der Zusammenführung des regierungskritischen Potentials der Stadt ­ innerhalb und unterhalb des Stadtparlaments", „etwas objektiver bitte. PDS etwas kritischer betrachten", „tendenziöse Berichterstattung", Trost gespendet: „Übersichtlichkeit finde ich nicht soo wichtig", „Ist Übersicht überhaupt das Konzept eurer ersten Seite?" oder scheinschlag-Euphorie geäußert ­ von „die einzige wahre Zeitung" bis zur Kurzcharakterisierung: „sachlich-kritische Kiezinformationen nicht ohne Humor (s. patentreife Fledermaus-Herbergsstory)".

Während die einen nach „eher noch längeren Texten" verlangten, fanden andere scheinschlag „zu detailliert bei Großberichten". „Am tollsten", schwärmte einer, sei überhaupt die Kolumne „Berlin 1896". Die Seite-3-Kolumnisten Bov Bjerg und Hans Duschke scheinen da die Leserschaft eher zu polarisieren ­ man mag sie („lese ich immer") oder nicht („nerven total", „pseudooriginelles dummes Gelaber"). Ein kurzes, bündiges und scheinschlag-globales „Weiter so!" warf hingegen ein 18jähriger in die Debatte.

„Ich kann den Namen nicht aussprechen"

Und der vielumstrittene Name? „Was fällt Ihnen zu dem Titel scheinschlag noch ein?" hatten wir gefragt, und die Assoziationen kannten kaum Grenzen: von ­ natürlich ­ Steinschlag (wie 1990 ja auch beabsichtigt) über Schattenboxen, Dachlawine bis „vergeblicher Einbruch" (letztere aus Wilmersdorf), Fragezeichen oder „Schlag gegen Geldscheine".

Unter der Leserschaft gehen die Meinungen zum Namen auseinander. Also: Was fällt Ihnen zu scheinschlag noch ein? Geradezu entwaffnend war die Antwort: „Nichts mehr." Ratloser ein: „scheinschlag??! Was heißt das überhaupt?" Ein anderer wurde biographisch mit „drei meiner sechs Berliner Jahre".

Zur Sprache kamen sowohl phonetische Probleme („ich kann den Namen nicht aussprechen", was uns am Telefon oft als schlichtes „hää?" begegnet) als auch die Bemerkung „Wieso dieser?", der man wohl getrost noch zwei Fragezeichen anhängen kann. Die Bemerkung „zu ehrlich ­ zu deprimierend" brachte uns allerdings schwer ins Grübeln.

„Schlag zum Schein oder schlagen die Scheine?" Von Scheinchen erschlagen ist scheinschlag jedenfalls (leider?) nicht. „Der Schlag zum Schein" war eine Lesart, eine andere „von Geldhaien erschlagen werden". Während manche den Titel zu brutal finden oder auch „radikal, anarchistisch, kein Bezug zum Untertitel", assoziieren andere eine „kluge Taktik, Um-die-Ecke-denken-können", und eine dritte Gruppe meint: „Auf keinen Fall irgendwas ändern!" oder „hat inzwischen Tradition, ist 'ne Botschaft", „ist inzwischen profiliert".

Eine Auswahl weiterer Anmerkungen: „den Schein schlagen", „könnte aggressive Intelligenz und kreative Intelligenz suggerieren", „man trifft nicht immer ins Leere", „schön schwammig", „Paradoxe, die es nicht sind", „Anschlag auf das Mittelmaß", „für ein Kiezblatt ziemlich aggressiv". Kurz gab sich ein Leser mit „Verbessern!", ebenso kurz wie lakonisch ein anderer mit „immer druff". Ein salomonisches „Ich lese scheinschlag weder wegen noch trotz des Schriftzuges" soll das Spektrum abrunden.

„Ausführlicher bitte!"

Adäquat zur Mischung der Einsendungen (immerhin eine nahezu vorbildliche Ost-West-Quote, vornehmlich durch den Zuzug in die östlichen Innenstadtbezirke), einer 37:63-Prozent-Frauen-Männer-Quote sowie der unterschiedlichen Altersgruppen (unter 20 bis 74 Jahre) gibt es einen breiten Fächer von Themenvorschlägen: mehr aus Friedrichshain und überhaupt anderen Bezirken (wir versuchen, dem nachzukommen), mehr Porträts, „Subsistenz" (wir grübeln weiter), außerparlamentarische Aktivitäten, Off-Konsum, „ausführlicher bitte!", „mehr über die ganzen Sauereien, die in der Stadt passieren, damit ich weiß, wie man sich hilfreich zur Wehr setzen kann".

Mehr Architekturkritik, „Leben am Potsdamer Platz ­ aber wie?" (schönes Thema!), Bildung/Uni, soziale Projekte, Sozialwissenschaft, Kinderkultur, Feuilleton der Zwanziger. DDR, „aber nicht nach typischem Ost-West-Konfliktschema, Vorstellung von DDR-Autoren, Bands etc., DDR-Kulturinfos für Neuberliner aus dem Westen, wie der Alltag war..."

Gewünscht wird nicht nur das Thema Lokalsport, analog „1. Fußball-Bundesliga", sondern auch „Szene-Infos" oder „Widerstandsformen".

Themenhefte schlägt ein Leser vor: Ausgaben zu Gaststätten, Cafés, Clubs in Mitte (ein Fall für 030?), Cartoons, Lebenssituationen, Obdachlosen, Ein-Mann-Unternehmen.

Einmal im Monat einen Ehrenbezirksbürger zu ernennen und zu berichten, warum er es geworden ist, schlägt eine Leserin vor. „Dringend mal wieder einen Bastelbogen", meint ein anderer ­ wir geben uns Mühe, den Entzugserscheinungen vorzubeugen. „Selbsthilfeprojekte, kulturelle Strömungen in den breiten Massen (Sind alle Ossis Spießer?)", überlegt ein Kreuzberger. Ja, wie groß ist der Spießeranteil unter den breiten Massen?

„Nebenverdienste von Politikern" scheinen genauso als Thema zu interessieren wie „Ideen von Lesern zu Kiezgestaltung, Problemlösungen, Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme an Politik" ­ immer her damit! Wie auch mit den gewünschten „mehr Essays, Literatur, Witze".

Im Vertriebsbereich gab es auf beiden Seiten offensichtlich großes Staunen ­ sowohl auf Seiten der Leser („Ich staune über euren Verteiler.") als auch auf Seiten des scheinschlags: Interessant zu erfahren, daß mancher den scheinschlag bereits vom Straßenzeitungsverkäufer erhält.

Aber niemand muß denken, er wohne „leider im falschen Bezirk", wie ein Charlottenburger Leser schrieb: scheinschlag gibt's auch in Charlottenburg, beispielsweise in den Kneipen rund um den Savignyplatz.

Zum Schluß: scheinschlag freut sich auch außerhalb von Leserumfragen über potentielle Mittäter, Texte, Ideen, Stachel, Widerspruch, Unterstützung... und interessiert sich nicht nur für die Fragebogenbeantworter, sondern auch für die Nichtschreiber und scheinschlag-Nichtleser. Ganz zum Schluß eine Leseranfrage: „scheinschlag klingt gut, aber was bedeutet der Name überhaupt? Können Sie das ins Englische übersetzen? Das Wort steht in keinem von meinen Wörterbüchern!" Wer eine Idee hat: Post an scheinschlag.

Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 9 - 2005 © scheinschlag 2005