Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

scheinschlag 20/94

Jochen Distelmeyer macht sich 'nen Schlitz ins Kleid und findet's wunderbar

Wer 1992 seinen Bekannten „Laß uns nicht von Sex reden" vorspielte, hatte bald ein paar Freunde weniger und eine Lieblingsband mehr. Mit diesem Stück von der ersten Blumfeld-LP Ich-Maschine („das es nicht vertragen hätte, noch allzu lange nicht geschrieben worden zu sein", wie jemand sehr Wichtiges damals schrieb) gelang es grundsätzlich immer und überall, noch so unverfängliche Situationen derart mit Peinlichkeit aufzuladen, daß es selbst Unbeteiligten die Schamesröte ins Gesicht trieb. Insbesondere die Texte Jochen Distelmeyers machten das Debüt zu einer großen Platte, die sich zudem noch so gut verkaufte, daß bald zehntausendfach ein dringendes allzu menschliches Bedürfnis aufkam: die Identität des Sängers und die Authentizität des Gesungenen festzustellen.

Vom Terror solcher Zu- und Festschreibungen kann Distelmeyer ein Lied singen, mehrere sogar. Das neue Album L'etat et moi beschreibt in diesem Sinne eine Fluchtlinie, die sämtliche Spuren verwischt, in Richtung einer „Art von Verschwinden" in Verweisen und Zitaten (Godard, Smiths, Ton Steine Scherben, Willy Brandt, Blumfeld, Andreas Dorau, Fassbinder, Markus, Rilke, Flowerpornoes, Bienenjäger und Johnny Cash, um nur einige zu nennen). L'etat et moi ist so zuerst ein Angriff auf die innere Einheit (und von dort aus auf die deutsche), ein Album, mit dem weder Staat noch Starkult zu machen ist ­ auch wenn die taz schon drohte, „Jochen Distelmeyer ist Gott" auf Häuserwände zu sprühen (haben sie sich dann aber doch nicht getraut).

Foto: Mirko Zander in scheinschlag 23/96

Auf der Platte ist, was man bei einer Band, deren Veröffentlichungen oft als Gedichtbände mißverstanden werden, immer wieder betonen muß, auch und hauptsächlich Musik drauf: Das eine Blumfeld-Lied wird weiter variiert, wird härter, weicher, länger, darf auch weiter nach vorne, vor den Gesang, der seinerseits nun sogar singen darf. Wo, wie im Titelstück, die Musik fehlt und der Text bisweilen mit Goetheschem flirtet, ist es umso schöner, mit anzusehen, wie das, was zum Aufsatz zu geraten droht, wieder in Pop umschlägt, fremde Sprachen im eigenen Land spricht und so als „deutscher" Text funktioniert: „support your local schmerz", und: „too sexy for the führerbunker". Darum muß die Platte auch so heißen, wie sie heißt (und das Cover haben, das sie hat).

Zum Glücksfall werden Blumfeld dort, wo sich ihre Entwicklung als Prozeß selbstbezüglich bis zum Brechreiz verfolgen läßt, der, indem er sich ständig selbst ein Bein stellt, doch vorwärtskommt. Gleich mit der ersten Zeile Blumfeld: „Ein Lied mehr/das dich festhält/und nicht dahin läßt/wo du hinwillst", findet Distelmeyer eine Form des Abschieds von Pop, die erst recht als Pop funktioniert, so wird er „Single des Monats", später „Single des Jahres", der „auf Popmessen davon singt/daß so ein Leben isoliert", um danach Manhattan zu nehmen, Pavement kennenzulernen und jetzt als „Superstarfighter" hinzuzufügen: „Vergiß die Lieder die ich spiel/die hatten nie etwas zu tun mit dir".

Im Verlauf dieses Prozesses haben sich in den letzten zwei Jahren zwischen diversen Bands aus Hamburg und anderswo ungeahnte Verkettungen ergeben; am besten funktionieren die Blumfeld-Maschinen noch immer, wenn man sie an andere Apparate anschließt: Wer jetzt wegen L'etat et moi in den Plattenladen rennt, sollte zumindest nicht ohne Cpt. Kirk &, Sterne, Mutter, Goldene Zitronen, Regierung, Flowerpornoes, Begemann und Lassie Singers wieder nach Hause kommen. Und wer am 6. Oktober schon wieder vor die Tür will, möge sich im Gerard Philippe davon überzeugen, daß Distelmeyer tatsächlich super aussieht und uns was zu sagen hat. Tocotronic, die Vorgruppe, ist übrigens auch gut.

Sebastian Lütgert

* „L'etat et moi" von Blumfeld erschien bei Big Cat/Rough Trade

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 9 - 2005 © scheinschlag 2005