Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

1 Euro-Job-Spaziergänge in Berlin

Intervention in prekäre Beschäftigungsverhältnisse

Wir haben eine fröhliche Tradition der Berliner Arbeitslosen und Taugenichtse wieder aufgegriffen. Seit Januar 2005 treffen wir uns regelmäßig zu gemeinsamen Spaziergängen, bei denen wir Dinge tun, die sich alleine niemand traut: Ämter inspizieren, Kantinen testen, Schwarzfahren, 1 Euro-Sklaven auf der Arbeit besuchen und dabei auch gleich mal im Büro der Chefin vorbeischauen ...

Als die Diskussion um die 1 Euro-Jobs losging, fragten wir uns: Funktioniert es, massenhaft Leute in diese Jobs zu stekken, oder regt sich Widerstand? Entsteht dort eine explosive Mischung von ehemaligen Sozialhilfeempfängern, Akademikerinnen, Schwarzarbeitern und prekären Jobberinnen? Oder mucken eher die Leute auf, die ihre regulären Jobs bedroht sehen? Verbessert sich womöglich sogar der Handlungsspielraum von Arbeitslosen, wenn sie nicht mehr vereinzelt auf den Ämtern rumhängen, sondern sich gezwungenermaßen ständig begegnen? Schaffen es viele, sich vor den 1 Euro-Jobs zu drücken? Oder nutzen Arbeitslose die Jobs für sich und bringen durch diese „Mitnahmeeffekte" die 1 Euro-Jobs insgesamt zu Fall?

Da wir jenseits von skandalisierenden Pressemeldungen nicht viel wußten, beschlossen wir, Spaziergänge nach dem Vorbild der „Glücklichen Arbeitslosen" zu organisieren und die 1 Euro-Jobber direkt auf Arbeit zu besuchen. Wir wollten herausfinden, ob unsere Fragen etwas mit der Realität zu tun haben und zu welchen alltäglichen Widerstands- und Verweigerungsformen die Leute greifen.

Wir wollen aber nicht nur Informationen anhäufen, sondern auch eingreifen und Diskussionen unter den 1 Euro-Jobbern anregen: durch das Verteilen von Flugblättern und Berichten, durch unsere Fragen (Wie sieht's hier aus? Was kotzt euch an? Habt ihr schon mal überlegt, was gemeinsam dagegen zu unternehmen?) und durch unser Auftreten, das auch immer kleine Regelverletzungen beinhaltet (unangemeldet reingehen, mit den Leuten direkt reden, den Arbeitsablauf stören und die Vermittlung über Vorgesetzte ablehnen).

Im Gegensatz zu Kampagnen, die am Grünen Tisch in innerlinken Zusammenhängen ausgekungelt werden und mit denen den Leuten das „richtige Bewußtsein" übergeholfen werden soll, indem man ihnen die „eigenen Inhalte" nahebringt, geht es uns darum, den alltäglichen Klassenkampf zu verstehen und darin mitzumischen.

Um die Arbeiter (damit meinen wir alle direkt oder indirekt Lohnabhängigen, also auch sogenannte Hausfrauen, Studierende, Schüler, Arbeitslose usw.) direkt zu informieren, nehmen wir die Rolle des Postboten ein: Wir reden mit den Leuten und tragen die gesammelten Informationen an andere Orte weiter. Daß wir oft ähnliche Maßnahmenkarrieren hinter uns haben, erleichtert uns, mit den 1 Euro-Jobbern auf gleicher Augenhöhe zu reden. Trotzdem gelingt es uns nur ansatzweise, die Diskussionen, die wir auf politischen Veranstaltungen, mit Freunden und in unserer Gruppe haben, vor Ort weiterzuführen. Das mag u.a. an der Form der Untersuchung liegen. Denn wir stehen nicht in täglichem Kontakt zu den Leuten, wie es bei einer Organisierung am eigenen Arbeitsplatz der Fall wäre.

Zum Spaziergang: Nachdem wir Einrichtungen ausgesucht haben, die sich eignen, um mit 1 Euro-Jobbern und Festangestellten ins Gespräch zu kommen, verschicken wir eine Einladung und treffen uns mit einer Gruppe von acht bis 18 Leuten zum Spaziergang. Vor den einzelnen Stationen erzählen wir kurz, was wir darüber wissen. In den Einrichtungen selbst verteilen wir Flugblätter, in denen dargestellt ist, worum es bei den Spaziergängen geht.

So besuchen wir die Nähwerkstatt eines Beschäftigungsträgers: 40 Leute, meist Frauen und fast alle mit migrantischem Hintergrund, sitzen an Nähmaschinen und basteln Stofftiere für Kitas. Von den Arbeiterinnen sind etwa die Hälfte über ABM, die anderen über 1 Euro-Jobs beschäftigt. Trotz der aufgebrachten Aufseherin, die uns verbietet, mit ihren Schäfchen zu reden und unsere Flugblätter zu verteilen, kommen wir mit einigen ins Gespräch. Sie erzählen, daß es sie nervt, weder bezahlten Urlaub nehmen zu können, noch bei Krankheit Kohle zu kassieren. Bezahlt Blaumachen ginge hier deshalb nicht, die Arbeit sei aber ganz okay. Einige Frauen haben nach der „Einladung" des Arbeitsamts beschlossen, gemeinsam dort anzufangen, weil es zusammen einfach netter ist. Sie finden es gut, daß sich jemand für ihre teilweise beschissenen Arbeitsbedingungen interessiert. Während unseres Gesprächs läuft die Projektleiterin wütend zum Telefon, um die Bullen zu rufen. Wir gehen mit der Ankündigung, uns noch einmal sehen zu lassen, zum nächsten Ort ...

In dieser Art spazierten wir von Januar bis Juli zweimal im Monat durch Berlin. Dabei besuchten wir ganz unterschiedliche Einrichtungen: Schulen, Kitas, Bildungs- und Werkstätten, manche auch mehrmals. Allerdings waren die interessanteren Leute beim zweiten Besuch oft nicht mehr da, weil sie krank feierten, rausgeflogen waren oder selbst gekündigt hatten. Ein kontinuierlicher Kontakt wurde dadurch erschwert. Die vermutete explosive Mischung haben wir bei unseren Spaziergängen eher nicht vorgefunden. Dennoch ist die Lage alles andere als stabil, die Stimmung reicht von unbeteiligt über genervt bis zur Arbeitsverweigerung.

In Zukunft wollen wir uns zwei Bereiche näher anschauen. Erstens die öffentlichen Einrichtungen: Was passiert, wenn sich die Unzufriedenheit darüber ausweitet, die gleiche Arbeit zu schlechteren Bedingungen als die Festangestellten zu machen? Wie kann die formale Trennung zwischen Festangestellten und 1 Euro-Jobbern zwecks gemeinsamen Handelns aufgehoben werden?

Zweitens möchten wir in den Werkstätten verbindlichere Diskussionen mit den 1 Euro-Jobbern führen, gerade wegen der hohen Fluktuation. Dabei ist unsere Postbotenrolle besonders wichtig. Wir können Informationen darüber weitergeben, was bisher in den Einrichtungen gelaufen ist, mit den Leuten konkrete Ideen aushecken und schauen, wie es weitergehen kann.

Die Spaziergänge sind der erste Ansatz dazu. Wir denken, daß es sich lohnt, wenn auch andere eigenständig durch die Stadt ziehen, um für weitere Unruhe zu sorgen und über Arbeits- und Ausbeutungsbedingungen insgesamt zu diskutieren.

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E-Kontakt: noservice@gmx.de

Dieser Artikel ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus der Zeitschrift arranca (http://arranca.nadir.org), deren 33. Ausgabe Anfang Dezember erscheint.

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