Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Ossis sind größer als die Wessis

Volksbefragung im Treptower Park

Meine Freundin Erika behauptet, sie könne Bürger aus dem Ostteil der Republik von Bürgern aus dem Westteil der Republik unterscheiden. Heute noch, ja wirklich. Nein, nicht weil jemand stark sächsisch spricht oder brandenburgisch oder gerade von seiner Kindheit bei den Jungpionieren erzählt. Auch wenn sie hochdeutsch reden oder schweigen, kann Erika ihre Landsleute erkennen. Sie ist selbst aus dem Osten. „Ich habe da so 'nen Blick dafür", sagt sie.

Erika will mir beweisen, daß es wirklich funktioniert. Wir sind in den Treptower Park gefahren und haben uns auf eine Bank gesetzt. Beide ein Nogger mit Schoko in der Hand, beschauen wir die Leute auf der Uferpromenade. Ältere Damen mit hellgrauer Dauerwelle, Hundehalter, Radfahrer mit Helm, Liebespärchen in weiten Hosen.

„Der Mann da", sagt Erika. „Eindeutig. Osten." Sie deutet mit ihrem Nogger auf einen etwa sechzigjährigen Mann, der gemächlich am Ufer entlangschlendert. „Die Tasche! Mein Vater hatte genauso eine Tasche. So eine Lederhandtasche für Herren. Das ist der Osten." ­ „Erika, mein Vater hatte auch so eine Tasche. Und er kommt aus Stuttgart!" wende ich noch ein. Aber Erika ist schon unterwegs.

„Und?" ­ „Süddeutschland." Erika knabbert enttäuscht den Schokoladenguß von ihrem Eis. „Der Junge mit dem schwarzen Shirt und dem Piercing", gebe ich ihr eine zweite Chance. „Das ist kein Ossi", sagt Erika sicher, „der kommt aus Kreuzberg." ­ „Kreuzberg", bestätigt der Junge freundlich. ­ „Der da hinten mit dem Basecap." ­ „Auch kein Ossi, der kommt aus Köln." Der Basecapjunge stammt aus Bonn.

Die Ostler, erklärt mir Erika, erkennt man manchmal an der Kleidung. Wenn sie so Sachen tragen, die's früher nur im Osten gab. Windjacken bordeaux, Hosen braun, und so Westen. Heute kriegt man ähnliches nur noch bei C&A. Aber selbst wenn alle United Colors of Benetton trügen ­ man sähe es. Nicht so rempelnd selbstsicher wie die Westler gebärden sich die Menschen aus der Ex-DDR. Die Gesichter nicht so geschäftsmäßig und unnatürlich und verstellt. Eine junge schüchterne Mutter aus Frankfurt an der Oder ist derselben Ansicht. Die aus dem Osten haben das offenere Gesicht.

„Ne. Wir sind aus'm Westen", entrüstet sich ein Herr im bordeauxroten Blouson, der mit seiner Frau an der Spree promeniert. „Meine Freundin hier meint, man könne vom reinen Ansehen Ostler von Westlern unterscheiden", untergrabe ich Erikas Projekt. Denn es reicht jetzt langsam, wie sie in ihrer sensiblen Ostmanier die Leute überrumpelt. „Ja, ja, unbedingt", unterstützt der Herr überraschend Erika. Er sehe das auch, „uff jeden Fall." ­ „Woran?" ­ „An den Schuhen zum Beispiel, an denen spart der Ostler gern." ­ „An der Gesichtsfarbe", hilft ihm seine Frau. „Genau", pflichtet der Herr ihr bei. An den Mauergesichtern. Grau sehen die aus und verschlossen und mißtrauisch. So Spitzelkomplex. Der Herr hat Pech, denn natürlich muß er sich jetzt dem Test unterziehen.

„Nein, ich komme aus Neukölln", wehrt die befragte Dame ab. Sie nickt höflich und wünscht noch viel Erfolg. Die Spree plätschert leise und der bordeauxrotbejackte Herr überlegt. „Die hat sich jut getarnt", sagt er endlich. Kleidet sich westlich. Ist aber aus dem Osten. Die können das nämlich, mit der Tarnung, die Ossis. „Wissen Sie", schließt er, „ich habe überhaupt das Gefühl, daß wir hier immer noch eine Menge Stasi zu laufen haben." Seine Frau pflichtet ihm bei.

„Der Typ war aus dem Osten. Eindeutig!" knufft Erika mich an, als der Herr mit seiner Frau außer Hörweite ist. „Der kann nur aus dem Osten sein, wenn er so ein Ding mit der Stasi am Laufen hat. Der war selber bei der Stasi. Hast du gesehen, wie der guckt? So voll IM-mäßig. Der war bei der Stasi, und das will er vertuschen, deshalb erzählt er, daß er aus dem Westen ist." ­ „Der Typ ist total irre", fasse ich zusammen und überlege zugleich, ob meine Freundin vielleicht auch gerade überschnappt. Erika ist schon wieder davongelaufen. „Erika!" rufe ich. Zu spät, Erika hockt bereits bei zwei Männern mit Bierflaschen. Sie haben einen Hund bei sich, der offensichtlich in der Spree baden war, und sind sehr nett.

Foto: Jenny Wolf in scheinschlag 4/03

„Klar sind wir aus'm Osten", sagt der eine. „Dit sieht man doch bei uns. Schnäuzer, olles T-Shirt, Bierbauch, kurze Hosen, Sandalen und Socken dazu. Dit würde keen Westler so tragen." ­ „Die Sandalen schon", widerspricht der andere Mann, „aber der Westler würde keene Socken drunter anziehen. Dit is sicher." ­ „Bestimmt nicht diese Sokken jedenfalls", bestätigt sein Gefährte, „nicht weiße kurze Socken in Sandalen." ­ „Würden Sie sich zutrauen, andere Leute aus dem Osten zu erkennen?" fragt Erika. „Dahinten!" sagt der erste Mann. „Da läuft auch ein Mann mit so Sandalen und Socken. Der is aus'm Osten. Dit is sicher." ­ „Wir fragen ihn", beschließt Erika.

Der mit den Socken ist Lehrer einer Schulklasse und kommt aus Brandenburg. Er ist von einer Schar etwa Achtjähriger umringt, die von der Idee, Ost und West zu raten, sofort begeistert sind. „Sagt mal", wendet er sich an seine Kleinen, „seid ihr aus dem Osten oder aus dem Westen?" ­ „Aus'm Osten!" ­ „Aus'm Westen!" johlen die Kinder. „Komm Mausepieps", spricht er direkt ein blondgelocktes Engelchen an, „bist du aus dem Westen oder aus dem Osten?" ­ „Das weiß ich nicht", piepst das Mädchen. ­ „Wo bist du denn geboren?" ­ „Im Krankenhaus." ­ „Und wo war das Krankenhaus?" ­ „In Berlin." Das Mädchen ist den Tränen nahe. „Also", nimmt ein Junge die Sache in die Hand, „meine Oma und mein Opa waren im Osten, mein Vater und meine Mutter waren im Osten, also bin ich auch im Osten. Glaube ich." ­ „Das kommt drauf an, wo man zur Welt gekommen ist", widerspricht ein anderer. ­ „Puh, dann bin ich 'n Ossi! Super!" ­ „Die aus dem Osten sind ja manchmal in den Westen geflohen", trägt ein dritter Junge bei. ­ „Nein, die aus dem Westen in den Osten!"

„Und woran erkennt ihr denn jetzt die Wessis? Oder die Ossis?" bohrt Erika. – „Meine Mutter sagt, die aus'm Westen können besser kochen", kräht ein Mädchen. – „Vielleicht sind die Ossis größer als die Wessis. Mein Vater kommt aus dem Osten und ist viel größer als meine Mutter." – „Ost, Ost, Ost", singt ein recht kleiner Junge und springt im Kreis herum. „So, jetzt reicht es", sagt der Lehrer zur jüngsten Generation aus Ost und West. Es wird Zeit, daß man weiter kommt. Und das finden wir auch.

Tina Veihelmann

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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