Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Keine Schweine, keine Heiligen

Philippe Claudel hat einen Roman über die Gegenwart des Krieges geschrieben

Der 1962 geborene Franzose Philippe Claudel hat mit Die grauen Seelen seinen fünften Roman veröffentlicht. Der Ort der Handlung liegt in Frankreich, wenige Kilometer von der Frontlinie des Ersten Weltkriegs entfernt. Diesen nehmen die Bewohner im wesentlichen nur durch Geschützdonner, Truppenkolonnen zur Front oder Verletzten- und Totentransporte wahr – die meisten sind als Beschäftigte einer kriegswichtigen Fabrik vom Militärdienst freigestellt. Doch dann zerstört die Ermordung der zehnjährigen Wirtstochter Belle de Jour diesen scheinbaren Frieden.

Über 20 Jahre später schreibt der Ich-Erzähler des Buches über dieses unaufgeklärte Verbrechen und legt dabei menschliche Abgründe frei. In einer einfachen, aber sehr genauen Sprache porträtiert Claudel eine Klassengesellschaft, an deren Spitze der sadistische Richter Mierck, der Kriegsgewinnler Bassepin und der ölige Oberst Matziev stehen, „ein Liebhaber des Blutes, aber einer, der auf der richtigen Seite stand, da, wo man es vergießen konnte".

Dabei ist die Darstellung der Personen keineswegs einseitig. So hatte Matziev einst seine Karriere gefährdet, indem er Dreyfus unterstützte, der Opfer einer antisemitischen Kampagne wurde. Und auch der Erzähler hat schwere Schuld auf sich geladen. Demgemäß sagt die Tierenthäuterin Joséphine: „Ich kenne keine Schweine und keine Heiligen. Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle." Trotz dieser scheinbaren Relativierung des Titels handelt es sich bei Die grauen Seelen um einen düsteren Roman.

Claudel hat seine Absicht folgendermaßen beschrieben: „Die Gegenwart des Krieges als eine Art Ungeheuer: Das hat mich interessiert. Ich wollte wissen, wie die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung weiterleben." Und unter Hinweis auf den Vietnamkrieg, den Völkermord in Kambodscha, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und im Irak stellt er fest: „Wir alle, die in Ländern leben, wo Frieden herrscht, befinden uns in dieser kleinen Stadt."

Claudel hat ein zutiefst pessimistisches Buch geschrieben, ein trauriges Meisterwerk über und für Menschen, die wissen, „daß man sich in die Trauer zurückziehen kann wie in ein eigenes Land".

Frank Fitzner

Philippe Claudel: Die grauen Seelen. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 19,90 Euro

 
 
 
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