Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Kunst des Lebens

Ein Gespräch mit Peter Gente über den Merve Verlag

Woher kommt eigentlich der Name „Merve"?

Der Name kommt von meiner ehemaligen Frau Merve Lowien. Wir brauchten einen Verlagsnamen, und der Vorname „Merve" hat sich sehr gut geeignet, weil er eigentlich nichts richtig sagt, aber ein schönes Wort ist. Das Problem ist, man muß entweder einen Nachnamen wie Wagenbach nehmen oder einen inhaltlichen Titel. Und ein inhaltlicher Titel ist uns nicht eingefallen. Da war dieses „Merve" eine Notlösung, die sich aber als sehr brauchbar erwiesen hat.

Der Merve Verlag, den Sie jetzt zusammen mit Tom Lamberty führen, besteht seit 35 Jahren. Das ist eine lange Zeit. Wie würden Sie die Anfänge beschreiben?

Der Verlag ist 1970 als Kollektiv gegründet worden von Leuten, die sich in der 68er-Bewegung befreundet hatten. Er war ursprünglich gedacht als Korrektiv zu den Debatten, die damals in den linken Gruppen geführt wurden. Mit denen standen wir in Kontakt, waren aber nicht Mitglied, da wir den Anspruch auf Autonomie hatten. Wir wollten nicht Zulieferer sein oder Transmissionsriemen. Wir wollten politisch-theoretische Texte aus anderen Ländern übersetzen ­ kleine und kurze Texte, die wir mit Blick auf die damaligen Debatten für wichtig hielten.

Unser Programm bestand aus zwei Positionen. Einerseits ging es uns darum, die Parolen des Mai '68 – „Changer la vie" – aufzugreifen. Wir waren sechs bis acht Personen und haben Diskussionen geführt über Hand- und Kopfarbeit, über kollektive Arbeit, über kollektive Diskussionsgrundsätze. Wir lebten in Wohngemeinschaften, waren in Frauen- und Männergruppen zugange und hatten am Anfang keinen Pfennig Geld. Und wir haben damals alles selbst gedruckt. Jeder, der im Verlag war, mußte drucken lernen. Daß es keine Trennung von Hand- und Kopfarbeit gab, war zumindest der Anspruch. Die Trennung gab es natürlich in gewisser Weise schon. Es gab einige, die mehr wußten als andere und die die Texte besorgt haben. Die anderen haben dann eben mehr gedruckt. Aber jeder hat alle Arbeiten machen müssen. Das war der eine Punkt.

Der andere Punkt bestand darin, daß wir mit der Reihe „Internationale Marxistische Diskussion" zur Erneuerung des Marxismus beitragen wollten. Wir beschäftigten uns sehr intensiv mit dem Marxismus, sowohl als Organisationsform als auch als Erkenntnistheorie und Ökonomiekritik. Wir haben dann sehr früh Texte französischer Autoren ­ Althusser, Poulantzas, Rancière ­ und italienischer Marxisten publiziert. Wir waren die ersten Ausländer, die Negri übersetzt haben. Und wir hatten natürlich auch ein Auge auf die Kulturrevolution in China, die wir damals ja auch sehr begrüßt haben. Heute natürlich nicht mehr, nachdem sich herausgestellt hat, was da alles real passiert ist. Aber damals haben uns Slogans wie „Bombadiert das Hauptquartier" und der Anti-Autoritarismus, der da rüberkam, sehr fasziniert.

Wie würden Sie mit Blick auf die damalige Zeit den Stand linker Theorie in Deutschland im Vergleich zu der Situation in Italien und Frankreich charakterisieren?

In Italien gab es in den sechziger und siebziger Jahren eine relativ bewegliche kommunistische Partei, die natürlich des Revisionismus angeklagt wurde, die sich teilweise auch sehr opportunistisch verhalten hat, aus der aber eine ganze Reihe Intellektueller hervorging, z.B. Il Manifesto, Lotta Continua, Potero Operaio. Und es gab eine richtige Arbeiterbewegung. Das alles gab es in Deutschland nicht. Keine kommunistische Partei, wenn man mal die DKP beiseite läßt, die intellektuell völlig uninteressant und sehr klein war, keine Arbeiterbewegung, sondern nur eine sehr breit gefächerte Bewegung von Studenten und Intellektuellen, die mit relativ wenig Erfolgsaussichten versuchte, die Arbeiter zu agitieren, sie auf ihre Seite zu ziehen. Wir waren der Meinung, daß das, was Italiener und Franzosen zu bieten hatten, vielleicht ein Ansatz wäre, der in Deutschland den Zugang zum Proletariat erleichtert.

Mitte der siebziger Jahre vollzogen Sie dann den Übergang von der „Internationalen Marxistischen Diskussion" zum „Internationalen Merve-Diskurs". Würden Sie diesen Übergang als Bruch oder zumindest als recht deutlichen Ausrichtungswechsel bezeichnen oder eher als Kontinuität?

Ich würde sagen: Kontinuität im Wandel. Das Kollektiv ist 1974 zerfallen. Dazu muß man wissen, wir haben sehr intensiv gearbeitet. Wir haben sehr viel diskutiert, wir haben die Diskussionen protokolliert, wir haben die Protokolle wieder diskutiert und das dann wieder protokolliert. Aber irgendwann hatte sich das Kollektiv erschöpft. 1974 war eine Zeit, zu der bei uns alles ziemlich durcheinander ging und wir auch ziemlich durchgedreht waren. Kurz nach dem Zerfall des Kollektivs habe ich dann Heidi Paris kennengelernt. Seit 1975 haben wir den Verlag dann zu zweit gemacht. Der Wandel bestand darin, daß wir anfingen, uns mit Foucault, Deleuze und Lyotard sehr für Minoritäten, für Frauen- und Homosexuellengruppen zu interessieren ­ für all das also, was bei den Marxisten als Nebenwiderspruch durchfiel. Das haben wir aufgegriffen.

Wir waren nach wie vor an alternativen Lebensformen interessiert, und Foucaults Parole von der „Kunst des Lebens" war sehr wichtig für uns. Die Kontinuität bestand darin, daß wir die Ideale vom Mai '68 aus Paris weiter tradiert haben, zwar nicht mehr unter der Flagge „Marxismus", aber eben unter „Merve-Diskurs". Und ich würde sogar sagen, daß wir das bis heute tun. Virilio, Deleuze, Blanchot ­ das waren ja auch alles Theoretiker, die '68 in Paris dabei waren. Foucault war '68 nicht in Paris, sondern in Tunis. Aber danach hat er sich dann sehr stark engagiert. Ich habe ihn kennengelernt, als er hier in Berlin Auskunft suchte über die RAF und wissen wollte, welche Perspektiven das Ganze hat.

Sie gehörten ja zu den ersten, die Foucault in deutscher Übersetzung veröffentlichten. Welchen Stellenwert hat Foucault für Merve?

Foucault ist enorm wichtig. Wir haben ihn zuerst 1977 oder 1976 publiziert. Wir machen das bis heute noch, wenn wir die Möglichkeit haben. Der Verlag ist mit Foucault, aber auch mit Deleuze, Guattari, Virilio ­ also mit den Autoren, die wir publiziert haben ­ den Weg ihrer Entwicklung mitgegangen.

Foucault oder Derrida werden mittlerweile auch an den Universitäten ausgiebig rezipiert. Ihr Verlag befindet sich aber nach wie vor im Spannungsfeld zwischen dem akademischen Diskurs und dem der gewissermaßen außerakademischen Pop-Linken. Wie würden Sie das Verhältnis dieser beiden Szenen beurteilen?

Also, wir sind ja seit 1970 nie wieder in die Uni gegangen. Wir waren immer in der Pop-Szene unterwegs. Wir haben sehr früh mit Kippenberger was gemacht und mit Blixa Bargeld. Wir waren sehr intensiv bei der '78er/'79er-Punk-Bewegung dabei. Also bei uns hat sich das auch mehr und mehr auf die Kunst verlagert. Wir haben Harald Szeemanns Museum der Obsessionen publiziert. Und neben den Autoren, die wir nach Deutschland rübergeholt haben und denen wir treu geblieben sind, gab es immer auch eine Berliner Szene mit Thomas Kapielski, Blixa Bargeld, Rainald Goetz und Westbam. Mit denen sind wir auch befreundet, die kennen wir aus der Kneipe. Wir waren oft im SO36, im Dschungel, im Risiko, und da war auch Wolfgang Müller mit den Genialen Dilletanten.

Es scheint im Laufe der Jahre eine breite thematische Auffächerung des Verlagsprogramms gegeben zu haben. Was sind die Schwerpunkte?

In den letzten zehn Jahren hat sich das Verhältnis zwischen Europa und Asien als so eine Art Schwerpunkt herausgebildet. Ich bin sehr an dem interkulturellen Vergleich zwischen abendländischer Denkweise und chinesischer Weisheit interessiert. Wir haben Bücher über japanische Architektur und über asiatische Musik gemacht. Von Françoise Jullien haben wir inzwischen fünf Bücher veröffentlicht. Und John Cage war für uns natürlich auch sehr wichtig. Zu dem harten Kern ­ Foucault, Deleuze, Baudrillard, Virilio ­ ist dann in den letzten Jahren z.B. auch Luhmann dazugekommen. Dann haben wir Heinz von Förster und Dirk Baecker kennengelernt und mit ihnen Bücher gemacht. Da hat sich also die Systemtheorie als weiterer Schwerpunkt herausgebildet.

Aber wir wollen natürlich nicht alles machen, wir wollen nicht das ganze Feld abdecken. Und wir erheben auch nicht den Anspruch, nur was bei Merve erscheint, sei richtig und gut. Also, ich freue mich, daß es diaphanes und andere Verlage gibt, die zwar zum Teil das machen, was wir auch machen, die aber eben auch andere Autoren verlegen. Ich freue mich darüber, daß Badiou auf Deutsch publiziert wird, daß Rancière und Nancy weiterhin publiziert werden, daß man das lesen kann. Es muß nicht immer bei Merve sein.

Würden Sie heute jemandem empfehlen, einen Verlag zu gründen?

Der Knackpunkt ist, daß es heute relativ wenige gute Buchhandlungen gibt. Und auch relativ wenig Rezensionen in der Presse. Man wird nur rezensiert, wenn man Werbung macht. Und Werbung machen wir nicht. Also ist die Rezension eher eine Freundschaftsgeschichte oder ein bißchen Mitleid oder so eine Art Hilfe. Aber eine Öffentlichkeit gibt es gegenüber Verlagen nicht. Was ein Verlag eigentlich ist oder was er macht, das interessiert keinen. Und es ist ja auch so, daß man mit einem Verlag wenig Geld verdient. Einen Verlag am Laufen zu halten, ist eine sehr obsessive Arbeit, die einen auch auffrißt, ohne Ende. Wir haben immer Geld woanders dazuverdienen müssen. Ich mache jetzt jedes Jahr einen Kongreß in Karlsruhe. Die sind relativ gut bezahlt. Es war eigentlich immer so, daß wir 50 Prozent unserer Einnahmen über den Verlag bekommen haben und die andere Hälfte irgendwo anders verdienen mußten.

Aber ich würde das, was ich gemacht habe, wieder so machen. Es ist besser gelaufen, als ich erwartet habe und als ich es mir selber zugetraut habe. Um heutzutage einen Verlag zu gründen, muß man wahrscheinlich schon ziemlich viel Geld mitbringen. Andererseits muß man sagen, daß man einen Verlag nur machen kann, wenn man sich sehr genau die anderen Verlage angeguckt hat, und schon bestimmte Titel im Kopf hat, von denen man meint, die gibt es nicht, aber die muß es geben. Man muß also, bevor man einen Verlag gründet, bereits ein bißchen Programm haben. Schon früher in der alternativen Bewegung waren viele Verlage sehr clever im Vertrieb und so weiter. Die konnten ihre Sachen gut verkaufen, aber hatten eigentlich gar kein Programm und wußten eigentlich auch gar nicht so genau, warum sie einen Verlag machen. Und die anderen – wie wir – hatten von der Ökonomie keine Ahnung. Wir haben davon zwar immer noch keine Ahnung, aber machen eben Programm. Und damit kommt man dann, so ach und krach, über die Runden.

Interview: Thomas Hoffmann

 
 
 
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