Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Eisbein um drei Uhr morgens

Das „Carrousel" in Schöneberg

24-Stunden-Kneipen sind oftmals dunkle Kaschemmen, in denen abgewrackte Typen ihren Absturz fortsetzen, nachdem in den anderen Etablissements schon abkassiert wurde. Das „Carrousel" in der Dominicusstraße neben einem Sexvideoverleih, einem Mobiltelefonshop, dem China-Restaurant „Große Mauer" und einem Döner-Imbiß dagegen ist ein bürgerlich anmutendes Gasthaus, dessen Besonderheit nunmal darin besteht, bis sechs Uhr morgens nicht herausragend billige, aber reichhaltig portionierte deutsche Küche anzubieten. Seine Kundschaft sind deshalb weniger die Quartals- oder Pegeltrinker, keine Heimatlosen oder Exzeß-Suchende, sondern Vereinsmeier, Schichtarbeiter und vermutlich auch ein paar Workaholics. Menschen eben, die es aufgrund ihres mehr oder weniger verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus' für ganz normal erachten, nachts um drei Uhr Eisbein oder morgens um fünf Hackbraten zu verspeisen.

Das Carrousel muß folglich auch keine abgefahrene Einrichtung, szeneverdächtige Events oder touristentaugliche Atmosphäre bieten, um sich seinen stadtbekannten Ruf zu wahren. Die Einrichtung ist funktional: Tische in verschiedenen Größen für die vielen Stammtischabende, unauffällig-praktische Kunstleder-Sitzecken in gediegenem Grün, ein Billardtisch, Dart-Automaten, eine Leinwand für die Bundesliga-Übertragungen und ein kleiner Fernseher für tonlose Karnevalssendungen.

Früher hieß das Carrousel noch „Lothar & Ich". Nach der Renovierung vor fast fünf Jahren ­ als die ohnehin schon großzügigen Räume mit Spiegeln optisch vergrößert, die Wände heller gestrichen und neue Bestuhlung eingebaut wurden ­ bekam die Kneipe auch gleich einen neuen Namen. Ein Fehler, wie die Frau hinter dem Tresen einräumt, fanden die Gäste die schummrige Atmosphäre doch besser und zudem sollte man keinen Namen ablegen, der über die Bezirksgrenzen hinweg bekannt ist. Wenn sie sich an die „goldenen Zeiten" erinnert, wirkt sie fast wie die Nostalgiker in Prenzlauer Berg, denen jede Neuerung suspekt ist.

Dabei hat sich im Carrousel gar nicht so viel verändert, auch wenn die Zille-Zeichnungen und historischen Fotos an den Wänden jetzt einheitlich gerahmt sind. Noch immer finden hier die Dart-Turniere der Kneipenmannschaften statt. Auch Gruppen von Taxifahrern, die zehn Prozent Rabatt auf Essen und alkoholfreie Getränke bekommen, treffen sich mehrmals in der Woche hier, um mitten in der Nacht ihr Mittagsmahl einzunehmen. Einmal wöchentlich versammelt sich der Schöneberger Ortsverein der CDU, vor den Heimspielen der Hertha-Fanclub und manchmal auch die Beamten vom Abschnitt 42. Und das dienstägliche Eisbeinessen für fünf Euro wurde ebenfalls aus den Lothar-Zeiten übernommen.

Natürlich spielen sich im Carrousel auch manchmal filmreife Szenen ab, behauptet die Tresenkraft. Das muß man sich wohl einreden, wenn man jahrelang hier arbeitet, auch dann, wenn in den frühen Morgenstunden mitunter die Gäste ausbleiben. Anekdoten fallen ihr jedenfalls auch auf Nachfrage nicht ein. Daß der Laden nicht immer voll ist, scheint eine unabwendbare Begleiterscheinung bei einer Kneipe, deren besonderer Service sich in den langen Küchenöffnungszeiten erschöpft. Immerhin ein krisensicheres Angebot, auch wenn hier wie überall die schwindende Kaufkraft merkbar ist.

Daß die Kneipe keinen Hype benötigt fürs Überleben, beweisen selbst diejenigen, die einst versuchten, einen zu etablieren: Anfang der Neunziger fanden ein paar Zehlendorfer Schüler den Lothar und seine Nachtmahls so abgefahren, daß sie gleich einen Spaßverein gründeten, den „Verein zur Wahrung und Pflege des Cordon-Bleu", und sich einen Wimpel auf ihren Stammtisch stellen ließen. Mittlerweile halten sie das Gasthaus nicht mehr für einen Geheimtip, sondern für das, was es ist: eine Einrichtung, die zuverlässig die Bedürfnisse von nachthungrigen Leuten befriedigt. Die ehemaligen Vereinsmitglieder kommen immer noch vorbei ­ weniger regelmäßig und in kleineren Gruppen. Manchmal bestellen sie auch noch Cordon-Bleu. Vielleicht sind einige von ihnen jetzt selbst der CDU beigetreten oder fahren Taxi.

Susann Sax

 
 
 
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