Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kreuzberger Nächte sind lang

Das Bierlokal „Rote Rose" besucht man am besten nachts

Als die Gebrüder Blattschuß in den siebziger Jahren die Kreuzberger Nächte besangen, klang das wie eine Hymne auf die Berliner Eckkneipe, deren Kreuzberger Variante offenbar für besondere Ausschweifungen bekannt war. Auch heute noch steht Kreuzberg in dem Ruf, man könne hier gut die Nacht zum Tag machen. An Eckkneipen denkt man dabei allerdings nicht mehr, eher an angesagte Szenekneipen oder abgefuckte Punkerschuppen. Dabei gibt es sie hier noch zuhauf, die alten Berliner Traditionslokale mit Bier minderer Qualität. Manche haben sogar rund um die Uhr geöffnet, was man von den neueren Kneipen nicht sagen kann.

Eines dieser 24-Stunden-Lokale ist die „Rote Rose" in der Adalbertstraße. Sie liegt nur wenige Meter von der Oranienstraße entfernt und damit mitten im Kreuzberger Vergnügungsviertel. Wenn man dort freitagnachts kurz nach zwölf einkehrt, findet man etwa ein Dutzend Trinker vor, die bereits gut einen im Tee haben. Kreuzberger Eckkneipen unterscheiden sich von solchen in anderen Vierteln dadurch, daß hier das Publikum deutlich gemischter und meist weniger spießig ist. Das ist in der Roten Rose auch so. Man weiß auch nicht auf den ersten Blick zu sagen, wer hier eigentlich Stammgast ist, wer nur kurz hineingeschneit ist auf dem Weg zur nächsten Party oder wer sich vor dem Schlafengehen noch die letzte Ölung in enthemmter Atmosphäre zu verpassen gedenkt. Um das sagen zu können, muß man schon ein wenig verweilen. Wegen der nahegelegenen Kneipenansammlung herrscht in der Roten Rose freitagnachts ein ständiges Kommen und Gehen. Nur ein kleiner Stamm hauptsächlich um den Tresen zecht hier die ganze Nacht. Der Rest ist Strandgut.

Die Rote Rose ist nicht besonders groß, weshalb sie einem nie richtig leer vorkommt. Trotzdem hat man sich bemüht, möglichst viel unnötigen Nippes in der Kneipe unterzubringen, wodurch sie völlig überladen wirkt. In Kneipen dieser Gattung muß das aber so sein. Schön ist vor allem das Tarnnetz unter der Decke. Selbstverständlich kann man sein überflüssiges Bargeld auch in Geldautomaten stopfen, die an der Wand hängen, oder in ein Dartspiel, welches so angebracht ist, daß sich zwangsläufig der eine oder andere Dartpfeil im Kopf eines Tresenzechers wiederfindet. Auch eine Jukebox fehlt nicht. Sie ist mit derart vielfältigen Grausamkeiten bestückt, daß sich für jeden Gast sicher ein spezielles Folterkonzept entwickeln ließe.

Im Unterschied zu anderen Kneipen dieser Art wird man hier nicht zielgerichtet abgefüllt. Wer ein neues Bier will, muß es erst umständlich bestellen und bekommt es nicht automatisch weiter geliefert, bis er den Bierdeckel auf sein Glas legt. Der türkische Wirt ist meist anderweitig beschäftigt, muß seine Stammgäste unterhalten, der Jukebox ein paar Töne entlocken oder auch mal einen Gast vor die Tür setzen. Im allgemeinen aber herrscht nachts in der Roten Rose keine aggressive Stimmung. Eher verschüttet mal einer ein Bier auf die Klamotten seines Saufkumpanen. Aber nicht in böser Absicht, sondern weil er nicht mehr richtig geradeaus gucken kann. Wenn man nach einer in der Roten Rose durchzechten Nacht wieder auf die Straße tritt, hat man das Gefühl, sich in einer Parallelwelt befunden zu haben, obwohl das Publikum die Kreuzberger Nachtgesellschaft eigentlich ganz gut widerspiegelt.

Tagsüber sieht es hier anders aus. Hinter dem Tresen steht eine polnische Wirtin, an den Tischen sind nur wenige Gäste verteilt, die sich untereinander alle kennen, und die Jukebox ist aus. Die saufende Frühschicht, die schon vormittags anfängt, wenn anständige Menschen noch schlafen, und die mittags bereits besoffen ist, ist meist von etwas dumpferer Natur. Einer der Gäste beschimpft denn auch ununterbrochen, mal auf Deutsch, mal auf Polnisch, die Wirtin. Im Vergleich zu der ausgelassenen Stimmung nachts wirkt die Rote Rose tagsüber ziemlich verkatert.

Dirk Rudolph

 
 
 
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