Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Zwischen Umsturzgedanken und gediegenem Rausch

Kleine Geschichte der Kneipe

Zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen des gemeinen Mitteleuropäers, egal welchen Standes, zählt von jeher der Besuch öffentlicher oder halböffentlicher Räume, in denen es gesellig zugeht und das Bier in Strömen fließt. Im Mittelalter soff das Volk allerdings streng getrennt nach gesellschaftlicher Stellung. Vornehme fand man in Patrizierstuben, den Mittelstand in Zunftstuben, während der Pöbel sich in Schenken vergnügte, die als einzige für jedermann zugänglich und deshalb weniger gut beleumundet waren. Bereits 1310 führte man in München eine Polizeistunde ein, um die „Ansammlung von Gesindel" und die Störung der öffentlichen Ordnung zu unterbinden. Die heutige Kneipe ist aber eine Erfindung der Neuzeit, auch wenn sie auf die Schenke der niederen Stände zurückgeht – auf die Kneipschenke nämlich, wie man seit dem 18. Jahrhundert eine kleine, überfüllte und in ähnlich zweifelhaftem Ruf wie etwa die Kaschemme oder die Spelunke stehende Gaststätte nannte.

Als mit der Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert Millionen von Habenichtsen in die Städte strömten und sich dort als Industriearbeiter verdingten, entstand die Arbeiterkneipe und mauserte sich bald zur überragenden Institution proletarischer Kultur. Der Gang in die Schankwirtschaft ­ deren Mobiliar sich in den Arbeitervierteln zunächst lediglich auf einen Tresen beschränkte, an dem man stand, trank und quatschte ­ war nicht zuletzt eine Flucht aus beengten Wohnverhältnissen und für Tagelöhner auf Arbeitssuche unverzichtbar. Aber der Kneipenbesuch diente natürlich auch der Unterhaltung und bot die Möglichkeit, sich mit Schicksalsgenossen auszutauschen. Anfangs ein Ort, an dem desaströses Branntweinschütten exekutiert wurde, entwickelte sich die Kneipe zu einer Einrichtung, in der man sich beim Bier, dem „sozialdemokratischen Saft", in einen gediegenen Rausch politisierte. Ohne die Kneipe hätte sich das Proletariat gar nicht als eigenständiges Subjekt konstituieren können.

Neben dem proletarischen Stehausschank gab es noch die von Handwerkern frequentierte, von der Obrigkeit etwas besser angesehene Eckkneipe mit Stühlen und Tischen. Mit der flächendeckenden Verarmung der meisten Handwerker verschmolzen beide Gastronomieeinrichtungen gewissermaßen und brachten die heute bekannte Arbeiterkneipe als hegemoniale Erscheinung in den Industriestädten hervor.

Mit der Zeit wandelten sich sowohl Interieur als auch Größe der Kneipen. Waren sie zuerst noch sehr schäbig und heruntergekommen, dienten sich bald die Brauereien an, gaben Geld für Einrichtungen, brachten so viele Wirte in ihre Abhängigkeit und sorgten außerdem für eine gewisse Uniformität der Arbeiterkneipen. Die Brauereien strebten nach immer größeren Gaststätten, was dem Interesse der Arbeiterbewegung an Versammlungsorten sehr entgegenkam, besonders nachdem infolge der Sozialistengesetze ihre wichtigsten Organisationen verboten worden waren. In allen Arbeitervierteln entstanden deshalb Kneipen mit Hinterzimmern und mancherorts gar regelrechte Saalbauten, die für Feste aller Art ebenso geeignet waren wie für umstürzlerische politische Versammlungen. Das Bündnis der Arbeiterbewegung mit den Brauereien und den Kneipern war allerdings brüchig. Immer wieder gab es Kneipen- oder Bierboykotte der saufenden Arbeiter, etwa, wenn Gastwirte in ihren Räumen keine politischen Veranstaltungen zulassen wollten oder wenn Brauereien Entlassungen vornahmen, Lohnerhöhungen oder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ablehnten.

Im Gegensatz zu den um die Jahrhundertwende in den städtischen Zentren entstandenen Stehbierpinten oder Gaststätten mit Essensangebot, deren hauptsächliche Gäste Angestellte waren und die in erster Linie der schnellen Bedürfnisbefriedigung dienten, war die Arbeiterkneipe ein Ort für Stammgäste. In erster Linie traf man sich hier, um miteinander zu reden. Die Molle oder der Korn gehörten selbstverständlich immer dazu, wichtiger war aber die Geselligkeit.

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte die organisierte Arbeiterbewegung keine illegalen Treffen in Hinterzimmern oder getarnte Versammlungen in großen Saalbauten mehr nötig. Trotzdem blieben die Kneipen wichtigster Ort der politischen Willensbildung. Nach der SPD-Spaltung soffen die Arbeiter, sorgfältig nach Parteien und politischen Anschauungen getrennt, jeweils in verschiedenen Kneipen. Um die Verankerung der Arbeiterbewegung in den Kneipen wußten auch die Nazis, deshalb ließen sie nach 1933 systematisch Arbeiterkneipen beobachten, hinderten sozialdemokratische bzw. kommunistische Wirte an der Berufsausübung oder verschleppten sie in Konzentrationslager und widmeten hartnäckige linke „Kneipen-Nester" in SA- oder SS-Vereinsheime um.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die Eckkneipen in Westdeutschland ihre politische Funktion, was hauptsächlich daran lag, daß sich die meisten Arbeiter in ihr Familienleben zurückzogen und ihre Interessen von den Partei- und Gewerkschaftsfunktionären vertreten ließen. Um dem damit verbundenen Umsatzrückgang entgegenzuwirken, entstand deshalb in den fünfziger Jahren die sogenannte „Familiengaststätte". Nun lagen gehäkelte Deckchen auf den Tischen, und im ehemaligen Hinterzimmer lief ab 1953 der Fernseher. Die Familiengaststätte überlebte nicht lange, die Deckchen blieben.

Der Verbürgerlichung der westdeutschen Arbeiter stand kulturell aber auch eine Proletarisierung von Teilen des Bürgertums gegenüber. Die Arbeiterkneipen zogen mehr und mehr auch andere Schichten an und wandelten sich in Kiezkneipen. Das wurde dadurch begünstigt, daß die Wohnviertel durch verschiedene wohnungspolitische Maßnahmen bei weitem nicht mehr so homogen waren wie vor dem Krieg. Im Gefolge der Jugendrevolte 1968 entstanden ganz neue Kneipen, „Szenekneipen", die sich gern etwas abgeranzt gaben und sich des antibürgerlichen Impetus ihrer Betreiber wegen eher an den Arbeiterkneipen orientierten als an bourgeoisen Vorbildern.

In Ostdeutschland verlief die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg etwas anders. Den Mächtigen dort galt die Kneipe (neben anderem) geradezu als ein staatsfeindlicher Widerstandshort, als ein Stachel im Fleisch der Menschheitsbeglücker. So verkündete der große Weltverbesserer und Volkserzieher Walter Ulbricht, „nicht das Skatspielen in einer kleinen engen Kneipe" solle die nunmehr allgemeingültige „sozialistische Lebensweise" prägen, sondern das Bemühen, „sich mit den wertvollsten Schätzen unserer Kunst und Literatur vertraut zu machen". Zu den Maßnahmen, die diesen ideologischen Umerziehungsprozeß unterstützen sollten, gehörte denn auch die drastische Reduzierung der Kneipen. Infolgedessen waren ostdeutsche Lokale stets überfüllt, in ihnen traf sich eine äußerst heterogene Mischung von Trinkwütigen, die Kneipen veränderten sich, sie wurden mithin zum Treffpunkt für jedermann: Ein nichterziehungswilliges Würstchen (im eigentlichen Beruf: Dreher) saß mit einem anderen Würstchen (Uni-Professor) gemeinsam am Tisch und führte seltsame Gespräche. Hinzu kam eine Beschränkung in der Ausstattung: Gerade die Kneipen der untersten Kategorie, noch am ehesten mit den Arbeiterkneipen der Vorkriegszeit zu vergleichen, waren jeglichen kneipentypischen Zierats beraubt, merkwürdig geschichtslose Orte, mit der Urkunde zur Auszeichnung des sozialistischen Kollektivs hinterm Tresen als einzigem Wandschmuck.

Nach der Wende war es entsprechend schwierig, im Osten die Kultur der proletarischen Eckkneipe wirklich wiederzubeleben ­ ohne die gewachsene Tradition dieser Lokale im Westen. Zudem verstärkte sich ab Anfang der neunziger Jahre in ganz Deutschland eine Entwicklung, die mit dem Verschwinden vieler herkömmlicher Eckstampen verbunden war. Dafür waren hauptsächlich gesellschaftliche Veränderungen (in der Sozialstruktur, im Konsumverhalten usw.) verantwortlich. Aber daß immer mehr Kneiper aufgaben, hing auch nicht unwesentlich mit der Politik der Brauereien zusammen, Flaschenbier billiger zu verkaufen als Faßbier. Ein Umstand, der den Kneipen das Überleben erschwert, denn er befördert auf dramatische Weise das Heimsaufen und die Abwanderung der Trunksüchtigen in die preiswerteren Imbißbuden, mehr oder minder eine Neuauflage des früheren Stehbierausschanks. Ebenso befördert wurde die Entstehung einer neuen Art von Wirtschaften ­ ohne Faßbier.

Natürlich entstehen immer wieder Lokale, die sich scheinbar an der altehrwürdigen Eckkneipe orientieren, neu eingerichtet mit Dart- und Spielautomaten. Ja, sie sind neu, und genau das ist wohl das Problem: „Orte des kulturellen Gedächtnisses", wie ein hochgeschätzter Kollege die Eckkneipen einmal besang, sind sie deshalb eben nicht.

Zwar gibt es in den letzten Jahren eine gewisse Besinnung auf die Eckkneipe alten Typs, hervorgerufen durch das Interesse von Leuten, die da vorher nie reingegangen sind, einer der Clubs und Nachtbars überdrüssigen Klientel. Zu Stammgästen werden sie jedoch eher selten. Und es ist leicht voraussehbar, daß sich mit ihnen der Charakter der Kneipen ­ wieder einmal ­ verändern wird.

Dierek Skorupinski/Sabine Goes

 
 
 
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