Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Schwere Brocken

24 Fäuste und kein Halleluja in der Max-Schmeling-Halle

Foto: Jenny Wolf

Kennen Sie das Gefühl der Fremdheit im Vertrauten, der eigentümlichen Entfernung im Nahen? Nein, ich rede jetzt nicht von Identitäts- oder Beziehungskrisen. Ich rede von öffentlichen Orten und sozialen Räumen. Einfacher und genauer gesagt: von bislang ignorierten Gebäuden in vertrauten Gegenden und von Leuten, die man dort noch nie zu Gesicht bekommen hat. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Max-Schmeling-Halle. Hat man laue Sommerabende im Mauerpark genossen, aber die Existenz dieses Gebäudes bislang hartnäckig ignoriert, so ist die Verwunderung groß, wenn man sich irgendwann in dieser Halle wiederfindet. Die Verwunderung läßt sich steigern, wenn man besagte Räumlichkeiten zu einem Zeitpunkt aufsucht, zu dem eine Art von Veranstaltung stattfindet, die bislang gleichfalls der ganz persönlichen Ignoranz anheimfiel. Besonders gute Chancen, einen möglichst hohen Grad an Verwunderung zu erzielen, hat man z.B. dann, wenn man eine Veranstaltung der Sauerland Event GmbH besucht, um „gleich vier Meisterschaftskämpfen" beizuwohnen, „bei denen es um wertvolle Gürtel geht" (Sauerland).

Damit sind wir auf Umwegen beim eigentlichen Thema angelangt. Wie der Kenner sogleich bemerkt haben wird, geht es jetzt nicht etwa um eine weitere Modemesse in der heimlichen Fashion-Metropole Deutschlands, bei der teure Befestigungsvorrichtungen von Beinkleidern prämiert werden. Das Thema lautet jetzt vielmehr, prägnant und konzis formuliert: „Faustkampf vom Feinsten" (Sauerland).

Am 12. Februar trafen die Sauerland-Boxer Alexander Sipos, Vitali Tsypko, Arthur Abraham, Sina Samil Sam und Nikolai Valuev in der Max-Schmeling-Halle auf ihre jeweiligen Gegner, um „die Fäuste fliegen" (Sauerland) zu lassen. Die „Fights" (Sauerland) der beiden zuerst genannten Faustkämpfer sollten anscheinend lediglich als ein „Leckerbissen nicht nur für Box-Fans" (Sauerland) dienen. Aber bevor wir jetzt wieder auf Abwege geraten, indem wir uns fragen, wer zum Teufel sonst noch derlei Leckerlis aus welchen Gründen zu schätzen weiß, sollten wir besser am Ball bleiben und uns den Kämpfen der drei letztgenannten Boxer zuwenden. Denn da ging es um wirklich Wichtiges!

Wie man im Vergleich zu den gerade angeführten Sauerland-Formulierungen sofort sieht, ist die von mir gewählte Wendung „am Ball bleiben" hier metaphorisch natürlich vollkommen daneben und wirft ein bezeichnendes Licht auf den erschreckenden Mangel an Fachkenntnis seitens des Autors. Ich könnte jetzt den Versuch unternehmen, diesen Mangel zu vertuschen, indem ich mich gewieft von „am Ball bleiben" zu „Punchingball" oder ähnlichem laviere. Zwecks Vorspiegelung falscher Tatsachen besteht die von mir bevorzugte Strategie jedoch schlicht darin, die harten Fakten zu nennen. Wenden wir uns jetzt also endlich mit aller Ernsthaftigkeit den „Fights" der drei zuletzt genannten Boxer zu – und vergessen wir auch nicht, gegenüber ihren Beinamen die nötige Seriosität walten zu lassen. „K.O.-König" Arthur Abraham (Deutschland) mußte bei der erfolgreichen Verteidigung seines WBA-Intercontinental-Titels im Mittelgewicht gegen Ian Gardner (Kanada) erstmals über „die volle Distanz gehen", wie der Kenner zu sagen pflegt. Das heißt: Nach zwölf Runden gewann er nach Punkten. Sinan Samil Sam, der „Bulle vom Bosporus" (also Türkei), gewann nach Punkten gegen „den knallharten Amerikaner" Lawrence Clay-Bey und blieb damit WBC-International-Meister im Schwergewicht. Nikolai Valuev, der „Riese aus St. Petersburg" (richtig, Rußland), verteidigte seinen WBA-Intercontinental-Titel im Schwergewicht gegen Attila Levin (Schweden) durch technischen k.o. in der dritten Runde.

So, nachdem das Faktische erledigt wäre, können wir jetzt unseren Blick investigativ über das Publikum schweifen lassen. Wäre man wenig wohlwollend und partout darauf aus, immer nur das Schlechte zu sehen, so könnte man sich nun z.B. über die Institution des Nummerngirls aufregen und das sexistische Verhalten der zumeist wohl männlichen Zuschauer geißeln. Man könnte mißbilligend von jungen Damen in viel zu kurzen Kleidern berichten, die Schilder mit Zahlen in die Höhe halten und dabei anzüglich lächelnd mit der Hüfte wackeln. Man könnte von dem daraufhin einsetzenden Gepfeife und Gejohle ansonsten unscheinbarer Männer berichten, die – wahrscheinlich aus Angst, mißverstanden zu werden – noch ein „Ausziehen!" nachschieben, das vor jeglicher Fehldeutung gefeit ist. Da mir allerdings die Ernsthaftigkeit fehlt, geschlechterspezifische Mißstände innerhalb solcher Kontexte anzuprangern, deren Grundlage darin besteht, daß sich zwei Männer prügeln und dabei bejubelt werden, wird derlei hier nicht geschehen.

Stattdessen wollen wir uns den wirklich erhebenden Momenten zuwenden, an denen man wieder einmal sieht, daß Leibesübung und Lebensfreude Hand in Hand gehen. Die Begeisterung des Publikums schien grenzenlos, als der „Bulle vom Bosporus" sich ­ um im Bild zu bleiben ­ die Hörner wetzte. Man fuchtelte mit Türkei-Fahnen herum und stimmte donnernd „Türkiye"- und „Sinan"-Schlachtrufe an, um am Ende der Glückseligkeit so nahe zu sein, wie die Teilnehmer einer Butterfahrt, denen man versehentlich irgendwas in den Kaffee gekippt hat.

Von diesen raren Momenten der Ekstase abgesehen, war das Publikum dann aber doch auf gewohnt berlin-brandenburgische Weise sediert und ignorant. Nach erfolgter Aufforderung, sich beim Abspielen der Nationalhymnen zu erheben, erhoben sich zwar alle brav wie die Lämmer, aber ansonsten gab man sich redlich Mühe, seine Aufmerksamkeit nicht auf die Faustkämpfe richten zu müssen. Zwei Mittel zur Ablenkung waren besonders beliebt, je nach Klassenzugehörigkeit. Entweder konzentrierte man sich auf die Freßpakete, die zuvor an dem in der Halle befindlichen McDonalds-Stand erworben werden mußten. Oder man tänzelte durch den VIP-Bereich und verteilte Begrüßungsküßchen rechts, Begrüßungsküßchen links. Und plötzlich, ganz plötzlich, war das Fremde wieder allzu vertraut, das Ferne viel zu nah.

Thomas Hoffmann

 
 
 
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