Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Saufen für den Standort Deutschland

Sollte das Rauchen in Kneipen auf Brüsseler Betreiben demnächst verboten werden, ich hätte damit keine Schwierigkeiten – auch wenn sich meine kettenrauchenden scheinschlag-Kollegen dann wohl im Untergrund zum Bier verabreden müßten. Wer selbst nicht raucht, hat sich zwangsläufig damit arrangiert, daß Spelunken hierzulande anders als zugequalmt nicht zu haben sind, würde den Gestank aber doch kaum vermissen.

Ich frage mich allerdings schon lange, woher die Verve rührt, mit der seit einigen Jahren auch in Europa gegen das Rauchen vorgegangen wird, welche Interessen hinter diesen Kampagnen stehen. Ernstgemeinte Sorge um die Volksgesundheit mag ich nicht unterstellen, denn dann müßten längst auch Warnhinweise die Etiketten von Bier- und Schnapsflaschen zieren, dann müßte eigentlich genauso scharf gegen Fastfood, Autos und die meisten sportlichen Betätigungen vorgegangen werden. Zu simpel scheint mir auch die Erklärung, daß nun einmal ausnahmslos jede Entwicklung in den USA – wie fortschrittlich oder schwachsinnig auch immer – zwangsläufig Europa erreicht. Dazu kommt, daß im „Land der unmöglichen Begrenztheit" (Busoni) mit der Kriminalisierung der Tabakindustrie großes Geld gewittert und ja auch gemacht wurde, was hier nur wenig aussichtsreich erscheint.

Was ist nur los? Hat den Herren Rogowski und Hundt und ihren Erfüllungsgehilfen in der Bundesregierung denn noch niemand gesagt, daß diese ständigen Anti-Rauch-Kampagnen, sollten sie tatsächlich Wirkung zeigen, nachhaltig die Volkswirtschaft schädigen und zudem massiv die Rentenkassen belasten? Legale Drogen, die keine sogenannte Beschaffungskriminalität nach sich ziehen, sollten doch vom herrschenden Kapital begrüßt und gefördert werden. Einer ganzen Industrie droht sonst der Kollaps. Schon jetzt klagen die Brauereien über Umsatzrückgänge. Nicht auszudenken, würden auch gegen das Saufen Kampagnen gestartet, ich meine: nicht bloß gegen die Alkopops der Jüngsten, die doch erst noch ein paar 1-Euro-Jobs ableisten sollten! Wie drückte es ein österreichischer Gesundheitspolitiker einmal aus? Der Tod ist die kostengünstigste Lösung, das Sterbegeld ist schließlich auch längst gestrichen. Gibt es eine kostensparendere Lösung als 50- bis 60-jährige, die ihren Arbeitsdienst hinter sich haben und an Lungenkrebs oder Leberzirrhose sterben, ohne auch nur einen Cent Rente kassiert zu haben? Aber die vielen Krankenstände im finalen Siechtum! könnte ein Einwand lauten. Nun, ein Hundt wird so einen Arbeitnehmer sicher längst gefeuert haben, und der Staat sollte sich das bißchen Sterbehilfe schon leisten, wenn er dafür von jahrzehntelanger Rentenzahlung befreit ist.

Oder sollten die Oberkapitalisten im Suff – das zwanghafte Rauchen kann hier nicht in Betracht kommen – am Ende doch Protest, Verweigerung, Widerstand gegen effiziente Ausbeutung sehen? Schon in der frühen sozialistischen Bewegung gab es Debatten, wie der Alkoholkonsum der Arbeiterklasse einzuschätzen sei. „Alle Lockungen, alle möglichen Versuchungen vereinigen sich, um die Arbeiter zur Trunksucht zu bringen", schrieb etwa Friedrich Engels besorgt. Karl Kautsky hingegen hegte ganz andere Befürchtungen: „Gelänge es der Temperenzlerbewegung, in Deutschland ihr Ziel zu erreichen und die deutschen Arbeiter in Masse zu bewegen, das Wirtshaus zu meiden, dann hätten sie erreicht, was dem Sozialistengesetz niemals auch nur annähernd gelungen: der Zusammenhalt des Proletariats wäre gesprengt, es wäre auf eine Masse zusammenhangloser und daher auch widerstandsloser Atome reduziert." Der Zusammenhalt wurde auch so gesprengt. Saufen kann man auch zu Hause. Was soll's. Prost!

Peter Stirner

Einige Tips, wie und wo man in Berlin rund um die Uhr saufend den Standort Deutschland fördern kann, bringt das Kneipen-Special.

 
 
 
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