Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Feinfrosttechnik im Gorki-Studio

Gerne macht sie es nicht. Annja Kobe ist wieder in ihre Heimatstadt Magdeburg gezogen, um ihre todkranke Großmutter zu pflegen. Diese sitzt starr da, hält Annja für eine Diebin und läßt sich deshalb die Rechnungsbücher der letzten Jahrzehnte zeigen. Irgendwo fehlen 50 Pfennig (Ost), und Oma Elsa erzählt, daß früher alles besser war. Früher war die DDR, und ihr Mann Paul galt als verdienstvoller Wissenschaftler im Dienste der Kältetechnik, dekoriert mit dem Nationalpreis (3. Klasse). Und der Sohn war eine Kapazität in der Feinfrosttechnik.

Die Wohnung ist ein gänsehautverursachendes Geheimnis. Vor allem die Tiefkühltruhe. Dort liegt nämlich Annjas vermißter Vater, vorschriftsmäßig und in einem Stück bei Minus 18 Grad verstaut, um zu überwintern, bis die Zeiten wieder besser werden. Ein schöner Tod für den passionierten Kältetechniker, der selbst außer Dienst noch mit dem Thermometer herumlief und die Tiefkühltruhen in den Kaufhallen überprüfte, um die Verkäuferinnen zu schikanieren.

Diese Figuren hat die Autorin Annett Gröschner in ihrem Roman Moskauer Eis beschrieben. Eine Dramatisierung des Stoffes ist jetzt im Gorki Studio zu sehen und eröffnet zugleich die zweite Glaubenswerkstatt, Glaube II: ... und der Zukunft zugewandt. Der Titel ist natürlich ironisch gemeint, denn hier geht es um einen Rückblick auf 40 Jahre DDR in 40 Veranstaltungen. Die Bewegung in die Geschichte erfolgt rückwärts, bis man Anfang April bei 1949 angelangt sein wird.

Moskauer Eis ist eine gute Wahl, denn die Geschichte komprimiert Nachwendeversagen, Mangelwirtschaft und die Absurditäten des DDR-Alltags sowie ein bißchen Familiendrama. Bei der Inszenierung von Sascha Bunge sitzen sich die Zuschauer an den Längsseiten des Raumes gegenüber und schauen auf die mit drei Bänken sparsam ausgestattete Bühne und eine Plattenbaufototapete mit Fächern für Bücher oder Tassen darin. Auf der anderen Seite prangt ein riesiger, frostiger Frauenschmollmund. Dazwischen entfaltet sich das bizarre Familienpanorama der Kobes. Viel wird geredet in dieser Inszenierung, nur wenig miteinander. Retrospektive Monologe wechseln sich mit Spielszenen ab. Die Atmosphäre ist frostig. Trotz der sparsamen Gestaltung ist die Verdichtung des Romans gelungen, ohne Überzogenheiten oder Übertreibungen.

Ingrid Beerbaum

Das Stück „Moskauer Eis" nach Annett Gröschner ist am 31. Januar, am 7., 14., 21. und 28. Februar jeweils um 20 Uhr im Gorki Studio, Hinter dem Gießhaus, Mitte, für 12 bzw. 6 Euro zu sehen. Karten und Informationen unter fon 20221115

 
 
 
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