Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kurzkultur

abgekämpft

Die „jour fixe initiative" stellt ihre neue Vortragsreihe unter das Motto „Klassen und Kämpfe II". Das mag für viele heute antiquiert klingen, ist aber doch ein ambitionierter Versuch, sich einen theoretisch fundierten Reim auf gegenwärtige Zustände zu machen, denn: „Die Tatsache, daß in Deutschland heute keine klassenförmige politische Bewegung existiert, die diese Gesellschaft beseitigt oder zumindest einen bescheidenen Versuch dazu unternommen hätte, bedeutet noch lange nicht, daß wir nicht mehr in einer Klassengesellschaft leben." 2004/ 05 wird in Vorträgen im Kulturhaus Mitte und den HAU-Theatern in Kreuzberg Marxens Kapital neu befragt, geht es um Reggae als Sound des Widerstands und um die „Darstellung sozialer Wirklichkeit" im Film. Schließlich blickt man nach Frankreich, fragen sich die Initiatoren doch, „warum es in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt trotz frontalen Angriffen auf oft nur bescheidene, aber hart erstrittene Lebensverhältnisse, nicht zu einer Bewegung kommt, die zumindest die Ausmaße eines französischen Mai '68 erreicht."

* Am 8. November spricht Michael T. Koltan zum Thema „Vom Klassenkampf zur Kulturrevolution. Und zurück ...?", am 6. Dezember widmet sich Daniel BensaÏd „politischen Strategien fragmentierter Subjekte", jeweils um 19.30 Uhr im Kulturhaus Mitte, Auguststr. 21, www.jourfixe.net

abgeguckt

Karla Sachse betätigt sich häufig im Grenzbereich zwischen Text und Bild, ist mit visueller Poesie ebenso hervorgetreten wie mit Mail Art. Mit ihren Arbeiten interveniert sie aber auch immer wieder im öffentlichen Raum ­ so mit einem die ehemalige Grenze an der Chausseestraße markierenden „Kaninchenfeld". In der Galerie Pankow zeigt sie nun 138 „steinerne Gesichter", die sie in aller Welt, zwischen Laos und Arizona entdeckt hat.

* „f i n d. Zeichnungen" von Karla Sachse, noch bis zum 21. November in der Galerie Pankow, Breite Str. 8, Di bis Sa 15 bis 20 Uhr

abgestimmt

Nyles Lannon kommt aus San Francisco und klingt ein wenig wie die bessere Hälfte von Simon & Garfunkel. Seine Songs sind alle ein wenig traurig, einige sogar abgrundtief traurig. Weil er aber nicht nur mit Gitarre, sondern auch noch mit wohlig weicher Laptop-Elektronik auf die Bühne kommt, ist das zugleich wieder so versöhnlich, daß es, abgesehen von einem Kaminabend mit alkoholisiertem Kakaogetränk, kaum eine bessere Beschäftigung für einen Herbstabend geben kann, als auf ein Konzert von Nyles Lannon zu gehen.

* Nyles Lannon, am Sonntag, dem 14. November im Mudd Club, Große Hamburger Str. 17, Mitte

abgefeiert

Die diesjährigen Jüdischen Kulturtage sind erstmals einer großen deutschen Familie jüdischer Herkunft gewidmet ­ den Mendelssohns. An einem ihrer Hauptveranstaltungsorte, der Remise des Stammhauses der Mendelssohnbank in der Jägerstraße, werden die Kulturtage am 14. November mit der Ausstellung Die Mendelssohns in der Jägerstraße eröffnet. In den folgenden zwei Wochen gibt's über 30 Konzerte, Lesungen, Theaterabende, Filme, Ausstellungen, bis am 29. November mit der „langen Nacht der Mendelssohns" der musikalische Schlußpunkt gesetzt wird.

* Jüdische Kulturtage, von 14. bis 29. November, Informationen zum Programm: fon 88028254 oder netz www.juedische-kulturtage.org

abgedrängt

Zum 100. Jahrestags des Völkermords an den Herero in Deutsch-Südwest-Afrika findet in Berlin eine „Anticolonial Conference" statt (s. auch scheinschlag 8/2004), die auch von einem Filmprogramm im Kellerkino Arsenal begleitet wird. Das Besondere an diesen Filmen: Sie geben nicht die Sichtweise europäischer Dokumentaristen wieder, sondern beschäftigen sich aus afrikanischer Sicht mit der Kolonialgeschichte. So wird ein „Spielfilm-Epos" aus Burkina Faso gezeigt, Die Schlacht um Algier aus algerischer Sicht erzählt, zeichnet ein senegalesischer Film von 1971 nach, wie in einem Dorf der Widerstand gegen die französischen Kolonisatoren erwacht.

* „Remember Resistance – L'Afrique en résistance", von 3. bis 30. November im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten, www.fdk-berlin.de

abgebrüht

Was zunächst an einen abgefahrenen Zynismus spinnerter postmoderner Architekturtheoretiker denken läßt, erweist sich bei näherem Hinsehen als so interessante wie engagierte Ausstellung: Unter dem Titel Architektur der Obdachlosigkeit hat die Münchner Straßenzeitung BISS eine Fotoausstellung zusammengestellt, die sich mit Obdachlosigkeit in aller Welt auseinandersetzt und an der so bekannte Fotografen wie Wolfgang Tillmans und Boris Mikhailov beteiligt sind.

* „Architektur der Obdachlosigkeit. BISS zu Gast in der Berlinischen Galerie", noch bis zum 2. Januar 2005 in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, Kreuzberg, Mo bis Sa 12 bis 20 Uhr, So 10 bis 18 Uhr

abgeräumt

Der „Topos Raum" liefert ein Stichwort, unter dem Kunst- und Kulturwissenschaftler problemlos so gut wie alles unterbringen können: vom Interieur über Körper und Haut, den „Raumgewächsen" eines Kurt Schwitters, „Ausflügen ins Land der Liebe" bis hin zum Raumbegriff in der Musik. Auf der Tagung der Akademie der Künste, die bald einen neuen Raum am Pariser Platz zu besetzen gedenkt, geht es aber auch handfester um „Einkaufswelten" und die Privatisierung des öffentlichen Raums in New York und Berlin. International und interdisziplinär wird es zugehen, Peter Sloterdijk wird sich gar zu einem „Lob der Asymmetrie" aufschwingen.

* „Topos RAUM", von 17. bis 20. November in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten, www.adke.de/toposraum

abgezirkelt

Samuel Becketts berühmtes Stück Warten auf Godot bleibt eine Herausforderung für das Theater. Im dritten Teil ihres Projekts Godot, c'est moi nähert sich die französisch-deutsche Theatergruppe La-Parole-Aux-Mains dem berühmten Text mit den Mitteln der Gebärdensprache und des Tanzes. Mit gehörlosen Schauspielern in den Rollen von Wladimir und Estragon dekonstruiert Rolf Kasteleiner den Sprache und die Möglichkeit von Kommunikation problematisierenden Text von Beckett noch weiter. Außerdem werden französischer Laut-Text und deutsches LED-Schriftbild aufgeboten. Ein radikalisierter Beckett als Gegenbild zum allgegenwärtigen Spaßtheater? Nicht die schlechteste Aussicht!

* „Warten auf Godot" (3. Teil des Projekts Godot, c'est moi), vom 26. bis 28. November sowie vom 1. bis 5. Dezember um 20 Uhr im Tacheles-Kunsthaus, Oranienburger Str. 54-56, Mitte

 
 
 
Ausgabe 09 - 2004 © scheinschlag 2004