Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

ditte & menschenkind

Kritische Flaneure

So ein Zufall! Kaum steckt Menschenkind mal seine Nase aus dem Fenster seiner ebenerdigen Speckgürtelwohnung, da läuft ihm der als „Hundefuzz" vor einem Jahr auf- und dann wieder abgetauchte Peter vor die Augen. Eigentlich wollte er diese kurz schließen und wittern, was für ein Wetter sei, dann wieder öffnen und nur mal ganz kurz auf der gegenüberliegenden Friedhofsmauer weiden lassen, zur Belohnung für den überstandenen Umzug.

„Du hier?" ruft der ebenso überraschte Peter aus. „Unser Freund G. hat mir noch eben vor dem vermeintlichen Spindlersgrab gesteckt, daß du nun mit Ditte auf ihrer Datsche wohnen würdest. Die ganzen Tage würdet ihr auf der Datsche Dart spielen, hat er gesagt." „Sagt er? Dittes Datsche? Ditte hat überhaupt gar keine Datsche. Tendiert, ja. Immer mal wieder Ausschau gehalten und dann so reizende wie unverkäufliche Objekte entdeckt, Lenins Ruh beispielsweise ..."

Peter hat einen Schluck aus seiner Wanderflasche genommen. „Mensch, drück doch mal auf den Summer. Ich will auch mal wie ein Frührentner im Fenster liegen, Ellbogen auf Kissen, und auf die Friedhofsmauer starren." „Drükken könnte ich ja mal, aber reinlassen? Menschenskind, ich bin spät dran! Mir wachsen schon die Nägel über den Kopf!" „Rück ein Stück und laß mich rein! Fehlt nur noch, daß du anfängst mit: ‚Aber ja nicht umgucken! Bei mir sieht es aus'?!?" Die Haustür öffnet sich. Hastenichtgesehn, ist Peter alias Hundefuzz im Haus. „Bin schon da!"

Mit den Händen am Fahrradlenker, einen Feldstecher vor der Brust, steht Menschenkind in der Durchfahrt. „Ach Peter, du gibst mal wieder an wie ne offene Selters!" Dabei schmiegt er die linke Wange an Peters rechte recht stopplige. „Ich bin ein kritischer Flaneur. Ditte ist eine kritische Flaneuse, wahrscheinlich schon superkritisch, denn sie wartet schon ein Weilchen am S-Bahnhof. Kannst gern in meine Wohnung und gucken kucken. Wirfst den Schlüssel dann in den Briefkasten."

Peter schiebt den Jackenärmel hoch. „Höchste Eisenbahn. Nimm mich bitte auf dem Gepäckträger mit!" „Jongs, klabastert op de Beesters!" Das sei der belgische Armeebefehl für Aufsitzen, hat Ditte Menschenkind weisgemacht. Schon sitzt der sportlich-kernige Peter auf, und ab geht die Post durch die verschwiegenen Seitenstraßen.

„Was seid ihr?" Peter ruft, Menschenkind demmelt und schweigt. „Was ist denn das für ein Verein?" schreit Peter. Menschenkind demmelt und schweigt. „Was tut man da?" Menschenkind hält auf Ditte zu, die eine Karte studiert und demonstrieren kann, wie man sich die Beine in den Bauch steht. Mit eingezogenem Kopf, halb gehockt, hat sich Peter vor Menschenkinds Fahrradabschwungbein gerettet, während Menschenkind den Überschwang in den Straßenstaub setzt und zusehen muß, wie der davongekommene Peter seine Ditte herzt und küßt. Na, Schlag hat er ja, dieser Weltenbummler. Und auch Ditte mag ihn offenbar ziemlich. Arm in Arm gehen die beiden in die bereitstehende S-Bahn hinein.

„Was für Flaneure seid ihr zwei? Ich dachte bis jetzt immer, ihr geht aus Spaß an der Freude spazieren oder so ..." „Wir durchmessen gemeinsam mit etwa fünfzig anderen Berlinern auf den zwanzig grünen Hauptwegen unsere Hauptstadt und vermerken Abweichungen von Plan und Wirklichkeit. Also fast alles weicht ab, aber wie! Wir gehen den ersten Weg, wir zwei beide, den Spreeweg. Menschenkind wollte zwar wieder den dritten Weg einschlagen, als er dann aber sah, daß es der Heiligenseer Weg war, hat er gefremdelt. Er will seine Heimat mit den Augen des kritischen Flaneurs neu sehen, etwas Bleibendes für sie tun.

Wenn du willst, kannst du den Nauener, den Lübarser, den Pankeweg, den Lindenberger Korridor, den Ahrensfelder, den Kaulsdorfer, den Dahmeweg, den Britz-Buckower, den Wannseeweg, den Havelseenweg, den Barnimer Dörferweg, den Wuhleweg, den Teltower Dörferweg, die Humboldtspur, am Teltowkanal lang, den inneren Parkring, den Tiergartenring oder den Bullengrabenweg, einen davon oder alle kannst du kritisch entlangflanieren."

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

Weitere Informationen unter info@fuss-ev.de

 
 
 
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