Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Jemand hat sich verwählt

Es ist um die Mittagszeit. Wir schlendern auf das Brandenburger Tor zu. Im Tiergarten blühen die Krokusse, manche haben die Jacken ausgezogen. Es ist die größte Erhebung für soziale Gerechtigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik, sagt Attac. Andere nennen es nicht „für soziale Gerechtigkeit", sondern „gegen Sozialbabbau". Das sind sehr unterschiedliche Aussagen. Fast eine halbe Million Menschen erklären, daß es so nicht weitergehen kann. Nicht der 1. Mai in Kreuzberg, sondern, wie will man sagen, vom Volke getragen. Ein Massenereignis zu einer Sache, die im Kern brisant ist. Daß die Verteilung von Arbeit und Geld nicht mehr funktioniert, nach bekannten Mechanismen, das sieht ja, wer nicht blind ist – die selbsternannten „Pragmatiker" wie die „Ideologen", die Linken wie die Konservativen. Es sind hunderttausende Menschen gekommen, die meisten haben das Brandenburger Tor jetzt erreicht. Wir gucken in der Gegend herum. Manche sind auf die Toilettenhäuschen geklettert. Sie sehen auch nicht viel mehr als die anderen.

Zu den bisher größten Protesten gegen Sozialabbau und für soziale Gerechtigkeit haben sich fast eine halbe Million Menschen erhoben.

Tosender Applaus. Wer hat sich erhoben? Wenn ich mich umsehe, suche ich vergeblich nach Merkmalen, die diese Leute irgendwie verbinden. Es ist da kaum etwas. Auch in den Gesichtern nicht. Manchmal, nach Fußballspielen etwa, kann man denen, die von dort kommen, ansehen, daß sie etwas erlebt haben müssen, das sie auf eine verbindende Art bewegt hat. Sie haben dann alle einen ähnlichen Ausdruck im Gesicht ­ erhitzt, froh und besoffen. Das einzige, was man sagen kann, ist, daß fast alle, die hier stehen, schlecht frisiert sind.

Es wird Zeit, daß wir gemeinsam ein Zeichen setzen.

Der Redner sagt, wir sollen alle gemeinsam ein Zeichen setzen. Welches Zeichen? Auf den riesigen Monitoren waren bis eben „Die Prinzen" zu sehen.

Wir müssen aufstehen, damit es endlich besser wird.

Eine Aufforderung, aufzustehen. Der Aufruf geht an uns. Wir sollen uns erheben. Wir stehen bereits. Das Aufstehen scheint, nebenbei gesagt, in Berlin ein Problem zu sein. Allenthalben war auf dem Demozug die Rede davon, daß die Demonstration erst dann ihre volle Stärke entfalten würde, wenn die Hiesigen es endlich geschafft hätten, aus dem Bett zu kommen. Erst bei der Abschlußkundgebung könne man sehen, wie viele Menschen tatsächlich gekommen seien. Wir sind also aufgestanden, damit es besser werde. Hier stehen wir. Eben wurde durchgesagt, daß man einige grüne Riesenluftballons bitte aus der Blickschneise für die TV-Kameras auf die Bühne nehmen möge. Dem wurde Folge geleistet.

Die Lasten der Krise werden auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen.

Es gibt Lasten zu tragen. Ich sehe zentnerschwere Säcke vor mir, die einer tragen muß. Doch der Aussage nach geht es gar nicht darum, diese Lasten aus eigenen Kräften zu buckeln. Vielmehr ist die Rede davon, daß die Lasten „ausgetragen werden", und zwar auf den Rücken von „kleinen Leuten". Eine unangenehme Vorstellung. Das „Austragen" ist ins Passive gesetzt. Mit den „kleinen Leuten" sind offenbar wir gemeint. Eine Ansprache also an uns, als „die kleinen Leute". Weshalb spricht er Menschen, von denen man eben noch erwartete, sie sollten sich machtvoll erheben, als „kleine Leute" an? Die kleinen Leute stehen um Bier aus Plastikbechern Schlange.

Daß uns allen gemeinsam die Würde genommen werden soll.

Der Redner befürchtet, daß uns die Würde genommen werden könnte. Diesmal schließt er seine eigene Person mit ein. Zu den „kleinen Leuten" zählt er sich nicht. Die Würde aber sieht er bei uns und bei sich selbst gleichermaßen gefährdet. Für die Würde sind nicht wir selbst verantwortlich, denn jemand drittes hat es offenbar in der Hand, sie uns zu geben oder zu nehmen. Wer?

Die politisch Verantwortlichen sollen einmal nachsehen ...

Die Antwort: Die politisch Verantwortlichen sollen also sehen, wo unsere Würde geblieben ist. Politisch verantwortlich sind offenbar nicht wir.

Man darf sich nicht beeindrucken lassen von den Kapitalisten, die von einem Tag auf den anderen eine Fabrik von der Landkarte verschwinden lassen und mit ihr die, die dort arbeiten.

Heißt: Es gibt allmächtige Kapitalisten. Sie können wie der kindlich vorgestellte liebe Gott, der vor der Welt wie vor einem Spielbrett sitzt, Häuser und Menschen hier oder dorthin bugsieren. Davon sollen wir uns jedoch nicht beeindrucken lassen. Das klingt absurd. Jemand könnte das Spielbrett in die Hand nehmen und schütteln, so daß alles durcheinanderfliegt. Und ich soll arglos herumsitzen und mich nicht beeindrucken lassen.

Wir fordern, daß die Sozialdemokraten endlich das tun, wofür sie gewählt worden sind. Ihr Versprechen war: Wir kümmern uns um die Schwachen in der Gesellschaft.

Ein Redner sagt, die Sozialdemokraten hätten versprochen, sich um Schwache zu kümmern.

Ich habe mich verwählt.

Jemand hat falsch gewählt.

1 halber Meter Bratwurst: 2,50.

Heißt: daß ein halber Meter Bratwurst 2,50 Euro kostet.

Riesenbrezeln!

Es gibt auch Riesenbrezeln.

Tina Veihelmann

Fotos: Simone Hain und Ralf Fischer

 
 
 
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