Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Partitur-Gesellschaft

Zur Phänomenologie des Schweißtropfens

Es sind die Zeiten des Rock-Revivals. Nicht das erste. Aber doch wohl eine Zäsur, da die elektronische Musik sich als Massenphänomen so langsam aber sicher verabschiedet hat, sich allenfalls noch als prolliger Bastard an Südseestränden für Pauschaljetter umtreibt. Selbst die Morgenpost weint Techno (als Standortfaktor) keine Träne mehr nach, denn die neue Welle ist da. Getanzt und gefeiert wird zu Elektropunk, Elektro-Rock'n'Roll. Die Betonung liegt auf Punk, Rock, Pop etc. Gruppen wie Kraftwerk, Soft Cell oder Heaven 17 werden kopiert und manchmal fast erreicht. Neue Komponisten sind ernsthaft angetreten, nicht etwa im Techno oder nur im Techno, sondern im Rock'n'Roll, im Punk, das Rauhe, das Glitzern des Schweißtropfens in der Popwelt wieder zu entdecken. Daft Punk waren ja ehedem schon ein Vorläufer dieser Entwicklung. Es ist auch nicht einfach ein Fünfziger-, Sechziger-, Siebziger- oder Achtziger-Revival. Es geht angeblich auch nicht so sehr um Formen, sondern wieder mehr um Haltungen. So stehen neben Elekro-Plus-Irgendwas oder Hip-Hop-Gruppen auch wieder country-, reggae-, heavy-metal-, folk-, punk-, beat-, rock- und bluesbeinflußte Gruppen auf dem populären Programm. Es erscheint zudem viel teeny-velvet-undergroundiges Zeug. Die Moldy Peaches z.B. beleben den LoFi-Folkpunk, die White Stripes rehabilitieren den Bluesrock der Stones und der Cream, und The Walkmen klingen entfernt nach den Undertones. Alles offenbar nur ein normaler Retro-Affekt, aber ...

Kirchliche Rockmusik

Es gibt Menschen, die Techno noch nie mochten und nun begeistert in die Hände klatschen. Da tritt jetzt schnell wieder ein Gesicht von Pop auf die Titelseiten der Magazine, das nichts mehr mit dem Stand der Bewußtwerdung moderner Musik zu tun hat. Die Gruppenwerdung, das Hit-Gesicht, der Teenie-Kult, der alte solide Jazz-Handwerker. Das ist alles Schnee von gestern. Und langweilig dazu. Trotzdem scheint es ­ zumindest rechnerisch ­ aufzugehen. Wenn ich einfach mal zwischen die vermarktungskompatiblen Siebziger-/Achtziger-Popjahre pieke, wirkt das wie ein Déjà-vu. Ein Siebziger-Held, Joe Strummer (R.I.P.), Sänger und Liedermacher der Clash, war nicht so sehr an kompositorischen Neuerungen interessiert. Er setzte mehr auf Haltung, Traditionsbewußtsein, Stilkenntnisse. Das war vermarktungstechnisch eigentlich eher ein Hindernis. Trotzdem, wie ein Wunder, funktionierte es damals. Und es war okay, weil noch nicht überholt. Politische Korrektheit war noch nicht per se verdächtig oder einfach platt. Außerdem war der Folksong mit Bob Dylan in die Jahre gekommen. Andere Gruppen wie The Dream Syndicate, Green On Red, Pere Ubu oder Minutemen gingen danach in ähnliche Richtungen, erreichten aber nicht mehr die gleiche Vermarktungstauglichkeit. The Clash, in ihrer Volkstümlichkeit eine Siebziger-Ausgabe der Doors, oder der Creedence Clearwater Revival machten also coolen Polit-Rock. Und wenn's darum ging, welche Gruppen ich nie so recht mochte, paßten sie deshalb auch immer gut rein. Nicht nur das Elvis-Cover ihres London Calling-Albums fand ich damals zu dick aufgetragen. Es roch alles so nach Zeitgeist ­ obwohl es sicherlich gut gemeint war ­ und steigerte sich zum Gestank der politischen Punk-Bewegung. Mehr kannst du mich nur noch mit kirchlicher Rockmusik jagen ...

Der Ring

The Clash machten aus Sonny Curtis guter Countrynummer „I Fought The Law" einen passablen Schlager. Auch Reggae floß ganz natürlich in ihre Arrangements ein. Weil das ja, wie gesagt, auch alles politisch und wichtig war. Submission der Sex Pistols dagegen trieft ebenfalls vor Reggae-Anleihen, klingt aber viel aufregender. Weil's irgendwie nicht paßte. Nonkonform, abscheulich, Doom-Reggae. Man mußte hier kein Held der Revolution sein, um sie zu mögen oder zu hassen. So, wie es heute Eminem ventiltechnisch raus hat, dem Haß ein doofes, uns allen bekanntes, weißes Durchschnittsgesicht zu geben, vergaben die Sex Pistols uns einfach unsere Sünden, egal, wer gewinnt oder verliert. Bloß keine Heldengesänge oder Selbstmitleid – auch wenn oder gerade weil Richard Wagner im Popkosmos immer noch seine Urvaterkreise zieht; schließlich gilt seine Kompositionstechnik mit den Wiederholungspassagen vielen als Quasi-Beginn der Popmusik. Feste Strukturen und Dramaturgien, wie sie sich in Werken wie dem Ring des Nibelungen oder einem Pop-Album wie Pet Sounds von den Beach Boys finden, sind eine logische Folge glatter Aufzeichnungstechnik. Die Wirkung jedes Musikstücks ist vorgezeichnet, wenn es niedergeschrieben bzw. auf Tonträger gepreßt vorliegt. Dagegen ist ein Techno-DJ-Set vom Kreativ-Ursprung her gesehen viel freier einzustufen. Ein Abend mit Pink Floyd oder Tortoise bzw. Wagner ist somit als deutlich rückwärtsbezogen anzusehen. Der Anfang und das Ende bilden in der Musik den Rahmen – John Cage möge das versuchen zu ändern – innerhalb dessen jedoch ist Platz für das Experiment. Hier könnte man eigentlich schalten und walten, wie es einem paßt. Doch das ist plötzlich wieder unmodern geworden.

Adam Green, ich liebe dich

Jetzt feiern wir wieder Ringelreihen, grölen mit und heften uns bunte Starschnitte an die Zimmerwand. Es ist die Zeit des determinierenden Liedes zurückgekehrt. Und noch bevor ein merkwürdiges Abfallprodukt des Techno-Zeitalters wie Scooter seine Bierseeligkeiten für Autotuning-Fans ausgehaucht hat, beginnt das wehmütige Hoffen, es möge jetzt doch bitte kein Mitschunkeljahrzehnt bevorstehen. Diese Entwicklung, zurück zur Song- und Partitur-Scholle, ist im Anfang noch nett, niedlich, irgendwie anheimelnd. Doch ertappst du dich erst selbst dabei, wie du „Adam Green, ich liebe dich" in deinen Küchentisch ritzst, dann ist es an der Zeit, zu erwachen. Sag dir selbst, daß Musik keine festen Grenzen kennt. Daß auch das Herumspielen mit dem Heimcomputer oder einer Wandergitarre keine schmalzigen Songs hervorbringen muß. Andererseits mußt du dich auch nicht schweißnaß tanzen, um Musik zu spüren. Überhaupt gibt es keine Regeln und keine Gesetze, schon gar nicht in der Musik. Hab Mitleid und sei gut zu deinen Freunden, die sich schön – oder häßlich – machen für die Show oder die dir von ihrem neuen Klavierlehrer vorschwärmen. Offenbar ist ein Hang zum Geniekult, zum hermetischen Meisterwerk immer dann interessant, wenn eigentlich die Freiheit loszulegen, irgendwie mitzumachen relativ groß ist. Möglicherweise ist Mitmachen kein populäres Wort mehr – Vormachen, Nachmachen, Zeigen, Zuhören sind stärkeren Versuchungen ausgesetzt.

Jörg Gruneberg

 
 
 
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