Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1904

1. Mai

Der 1. Mai ist ein richtiger Frühlingstag. Die Akademie der Tanzlehrkunst zu Berlin hält hier ihre 25. Jahresversammlung unter dem Vorsitz des Universitätstanzlehrers, Ballettmeister O. Stoige aus Königsberg ab. Nach Erledigung des geschäftlichen Teiles und der Aufnahmeprüfung neuer Mitlieder geht man zu den praktischen Übungen über, die den weitaus größten Teil der Sitzungstage ausfüllen. Bei dieser Gelegenheit werden die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiet der Tanzkunst hinsichtlich ihres Wertes geprüft. Nur ein sehr kleiner Teil fand Anerkennung. Tänze wie der Cake-Walk oder Kikapoo usw. wurden von der Akademie entschieden verworfen.

Doch abends zwischen 21 und 22 Uhr strömen so kolossale Wassermassen hernieder, daß in kurzer Zeit alle Straßen überschwemmt sind. Auch durch Überfluten von Kellerräumen entsteht erheblicher Materialschaden. In Straßen wie der Yorckstraße, wo das Wasser nicht gleich Abfluß findet, stockt der Verkehr vollständig. Die Katzbachstraße gleicht 22 Uhr einem Strom. Die Feuerwehr wird in kurzer Zeit etwa 50 mal alarmiert, die Alarme folgen aus allen Stadtvierteln in so schneller Reihenfolge, daß die Apparate in ununterbrochener Bewegung sind. Da es unmöglich ist, in allen Fällen Hilfe zu leisten, wird nur in ganz dringenden Fällen das Wasser entfernt, wie aus dem Restaurant Hohenzollern in der Köpenicker Straße 3. Die einzelnen Löschzüge fahren von einem Feuermelder gleich zu mehreren Unfallstellen, machen dann kehrt und fahren zum nächsten Feuermelder oder zur Wache, um sofort zu einer neuen Rundfahrt bei dem strömenden Regen aufzubrechen.

Der Blitz zündet gegen zehn in einem Schuppen in der Triftstraße auf dem Gelände der Ackerwirtschaft von Karl Rauck ein erhebliches Schadenfeuer an. Der Besitzer ist Unternehmer für die städtische Abfuhr und Straßenreinigung und hat die hierzu erforderlichen Geräte teils auf dem Hofraum, teils in Schuppen und zwei Scheunen untergebracht. Die zusammenhängenden, etwa 50 Meter langen und 20 Meter tiefen Gebäude dienen zur Aufnahme großer Stroh- und Futtervorräte, auch sind im Erdgeschoß 60 Pferde untergebracht. Der Blitzstrahl schlägt in den Teil des Gebäudes, der die Stroh- und Futtervorräte enthält, sofort lodern hohe Flammen empor. Auf dem Grundstück sind der Inspektor und zwei Arbeiter anwesend, die sich an die Bergung der Pferde machen. Sie werden von Gästen aus einer benachbarten Gastwirtschaft dabei unterstützt. Auf die Meldung „Mittelfeuer" rasseln die Züge 3, 13, 14 und 15 heran, mit sechs Schlauchleitungen wird vorgegangen. Da das Feuer bereits das ganze Gebäude ergriffen hat, ist nicht viel zu retten. Die Scheunen, Fourage- und Geräteschuppen mit allen Vorräten, Ackerutensilien, zwölf Straßensprengwagen und vieles mehr werden ein Raub der Flammen.

Durch Unterspülung des Bahndammes an der General-Pape-Straße wird der Bürgersteig sowie die Hälfte des Fahrdammes dieses Straßenzuges hinter der Kolonnenbrücke fortgerissen. Die Sandmassen werden auf den Bahnkörper der Anhalter Bahn geschwemmt. Die Straßenbahngleise in der General-Pape-Straße schweben frei in der Luft, so daß der Verkehr für sämtliche in Frage kommende Linien für mehrere Tage gesperrt bleiben wird. Auch der Verkehr in der Unterleitungsstrecke zwischen Potsdamer Platz und Königsplatz muß unterbrochen werden, weil die Kanalleitung bis zur Schienenhöhe unter Wasser steht und der Strom infolgedessen abgeleitet wird.

In vielen Fällen schlagen Blitzstrahlen in Charlottenburg, Schöneberg, Lankwitz und Berlin in die Sektionskästen ein, so daß der Verkehr auch dort unterbrochen werden muß. Im Grunewald trifft ein Blitz einen Straßenbahnmast, so daß dessen Krone schmilzt und der Mast selbst halb umgelegt umzustürzen droht.

Im Süden der Stadt hat sich auf dem Tempelhofer Feld ein weiter See gebildet, der die Chaussee und Straßenbahngleise bedeckt. Unter den zahllosen Menschen, die der schöne Nachmittag in die Vergnügungslokale in Tempelhof und Mariendorf gelockt hat, entsteht eine Panik. In wilder Hast drängt sich alles nach den Haltestellen der Straßenbahn, es finden förmliche Schlachten um die Sitze in den Wagen statt. Das ganze Häuser-Geviert in Schöneberg zwischen Koburger, Max-, Tempelhofer, Mühlen- und Eisenacher Straße ist von jeglichem Verkehr stundenlang abgeschnitten.

Falko Hennig

 
 
 
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