Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Das Grenzgebiet spiegelt die Bundesrepublik

Uwe Rada sieht an der Nahtstelle zwischen altem und neuem Europa Hoffnung ­ wo andere einen Phantomschmerz fühlen

Selten waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen so sehr in aller Munde wie jetzt. Dennoch: Wenn man in Berlin eine Landkarte kauft, die das deutsch-polnische Grenzgebiet zeigt, hört sie noch immer hinter der Oder auf. Ins Unbekannte führt eine Reise an die Grenze noch immer, schreibt taz-Redakteur Uwe Rada in seinem neuen Buch Zwischenland. Wer kennt Guben oder Gubin, Görlitz oder Zgorzelec? Wer weiß, ob Küstrin zu Polen oder zu Deutschland gehört?

Diese unvertrauten Orte lassen umso mehr Raum für Projektionen ­ Geschichten von Pendlerzügen voller Schwarzjobber, von Massen falscher Nike-Schuhen auf Basaren. Im alten Westen steht die Grenze für einen Phantomschmerz. Ein Erschrecken darüber, daß in der Bundesrepublik nichts mehr beim Alten blieb, seit der Osten zum Westen kam. Es sind die Polen, die in Deutschland für das stehen, was man hier fürchtet: daß Menschen sich unter den Bedingungen eines nackteren Kapitalismus behaupten müssen und notfalls schummeln, schachern und Löhne unterbieten. Die Grenze zum Osten bildet auf der inneren Landkarte der Verunsicherten die Demarkationslinie ­ zwischen dem Alten, das man bewahren möchte, und einer Zukunft, die bedrohlich wirkt.

„Voller Hoffnungen, Enttäuschungen und neuer Aufbrüche" steckt dagegen für Uwe Rada das Grenzgebiet, von dem er sagt, daß es in unseren Köpfen vielmehr als eine „Erzählung" vorhanden sei, denn als eigene Anschauung. Eine Erzählung spinnt auch Rada um das „Zwischenland". Es ist die spiegelverkehrte Erzählung. Sein Buch erzählt von Orten an der Grenze, von ersten Zusammenarbeiten, auch von Fehlschlägen. Wer das Buch liest, erhält ein Bild von der Lage in den Städten, die am Grenzfluß liegen. Von Frankfurt/Oder und S[ubice, wo die deutschen und polnischen Studenten mittlerweile selbstverständlich die Grenze passieren. Von Szczecin, das als ökonomischer Hoffnungsträger der Region gilt, sogar für die deutsche Seite. Von Görlitz mit seinen wunderschönen Gründerzeitbauten, das mehr und mehr zur Kulissenstadt wird, weil die Menschen abwandern. Vom benachbarten Zgorzelec, einer jungen, prosperierenden Stadt mit vielen Migranten.

Es sind viele kleine Geschichten, die Rada entlang der Oder erzählt. Doch eigentlich erzählt er nur eine Geschich-te: die vom „Zwischenland" als einem Raum, der sich dadurch erst definiert, daß etwas Neues am Entstehen sei, „für das wir noch keine Begriffe haben." Ein Ort zwischen „nicht mehr" und „noch nicht". Rada schreibt von den Hoffnungen der Grenzgänger und derjenigen, die Neuland betreten. Doch unausgesprochen dahinter steht Radas größere Hoffnung: Als „Laboratorium" bezeichnet er das Grenzland, als Schnittstelle zwischen altem und neuem Europa. Wenn der Autor seine Leser mit nach Osinów Dolny nimmt, wo der Basar neue, überraschende Blüten treibt, könnte man meinen, es sei die „informelle Stadt", die als Modell der Zukunft gefeiert wird. All die kleinen Businessmen und gewitzten Dienstleistungsanbieter im Grenzgebiet, die bei Rada doch immer irgendwie sympathisch wirken. Eine rauhere, doch vitalere Welt mag da entdecken können, wer sich nicht im alten Westen verbarrikadiert. Daß die informelle Ökonomie mitunter nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wird – als Stimulans der Wirtschaft und um Brachen des Kapitalismus besseren Gewissens sich selbst überlassen zu können –, ist dem Autor bewußt. Weniger dem neoliberalen Projekt der Armen scheint seine Sympathie zu gelten, als dem Mut, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, ungeebnete Wege zu beschreiten, eine Grenze zu überwinden, statt eine vertraute Welt und lieb gewonnene Sicherheiten zu verteidigen. Die Botschaft schwingt bei allen Grenzlandgeschichten Radas mit: daß man im Westen diese Lektion von den Pionieren des „Zwischenlands" lernen könne.

Es ist eine Fülle von Episoden, die Rada über Orte und Menschen im Grenzgebiet erzählt. Ob deutsch-polnische Schulen, grenzübergreifende Kunstaktionen oder Butterfahrten auf der Oder. So viele Helden des Alltags machen hier im Grenzland ihr Glück ­ kommen zueinander oder scheitern daran ­, daß der Leser ihre Namen längst vergessen hat, wenn er die Lektüre beendet hat.

Doch was bleibt, ist, daß wer Zwischenland gelesen hat, mit dem unbekannten Terrain vertrauter geworden ist. Rada hat eine Geographie ausgeleuchtet, einen Wegweiser durch das Grenzgebiet vorgelegt. Nach Frankfurt/ Oder geht die Welt weiter – diese Botschaft ist angekommen.

Andrea Kumpf

> Uwe Rada: Zwischenland. be.bra verlag, Berlin 2004. 19,90 Euro

 
 
 
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