Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

ditte & menschenkind: Wiedervereinigung

Es ist einfach kein Zustand, getrennt und vergnatzt, wenngleich mit Recht, durch den Stadtraum zu stolpern, sich allein unterhaltend. Mal kann es ganz schön sein, zum Beispiel auf Hilde M. zuzugehen, ohne zu wissen, daß es Hilde M. ist, sie am Ärmel zu zupfen und dann festzuhalten, weil sie weitergehen will, stur die Augen auf ein unbekanntes Ziel geheftet, und sie zu nötigen: Hier, sieh dir das an, Lenins Bruder als Musiker, da muß doch Freude aufkommen in der kleinen Galerie am Weinbergsweg, auch wenn sich Hilde M. umso mehr wehrt, als Ditte sie bittet, ihr auch noch in die hinteren Räume zu folgen, wo so eine Vollplastik aus Pappmaché herumhängt. Ditte muß die gute alte Frau, die eigentlich nur Luft schnappen wollte, noch auf einen Kaffee einladen, will sie eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung verhindern. Als sie dann auf der Terrasse vom Café sitzen, wo zu DDR-Zeiten die Zocker mit den Geldscheinen wedelten, Glücksritter allesamt und manch einer auch Pechvogel, wenn er von der Volkspolizei erwischt wurde, erregt ein wohlbekannter Hüftschwung Dittes Aufmerksamkeit. Ist da nicht eben Menschenkind durch das Bild gequert, das sich ihnen bietet? Entblößte, vergnügte Menschen mit und ohne Hund, mit und ohne Decke, beginnen auf dem Rasen, dem wieder grünen Gras, sich so ineinander zu verknäulen, daß man nicht mehr erkennen kann, ob es Männchen oder Weibchen sind. Hilde hat nun wieder Atem schöpfen können, und, im Hüftschwung-Moment zwei Tische weiter ihre Cousine aus dem Vorderhaus entdeckt.

„Nehmses mir nicht krumm, ach, Kleene, sei nicht sauer!" Hilde ist weg.

Wiedervereinigung ­ was für ein Wort! Aber es drückt aus, wonach sich Ditte und Menschenkind sehnen, momentan Ditte noch allein, aber auch Menschenkind sucht das Einigende, als er durch die lagernden Menschengruppen schnürt: Hier kann mit seinen blauen Bändern flattern, wer will, auch wenn sie dabei schon schön Fleisch zeigen, die Geputzten und Umgezogenen, die Auferstandenen und Abgehauenen, die Flüchtigen und die Festen, Menschenkind will nichts anderes, er wittert Ditte. Sie schleicht sich von hinten an und hält ihm die Augen zu. Eigentlich kann er das für den Tod nicht leiden. Aber wie das so ist: Jetzt freut er sich.

„Menschenskind, mußt du meine Frisur verwuscheln?" Mit diesem Spruch versucht er, seine Freudentränen zu verschlucken.

„Ein Wind hier, daß einem die Augen tränen! Früher war es geschützter!"

Ditte läßt sich ins Gras rollen.

„Früher, Menschenkind, da sind die Bäume auch noch in den Himmel gewachsen!"

Ach, was für ein Anblick! Da, Ditte liegt ihm zu Füßen.

„Ja, Ditte, früher nämlich wuchsen die Bäume noch in den Himmel der Liebe, und heute müssen sie in den Himmel der Marktwirtschaft wachsen, und da mickern sie vor sich hin. Naja, alles Umwelt, nicht? Und sonst so? Was führt dich in diese entlegene Gegend?"

„Rate mal!" Lianengleich umschlingt Ditte Menschenkinds Waden und zieht sie derart häwi an sich, daß Menschenkind strauchelt, seine aufrechte Haltung auf- und sich auf Dittes Niveau begibt. Er weiß ja, wie man ihr eine Freude machen kann. Stolpern, straucheln, fallen ­ da lacht sie sich im wahren Leben oder im Kino kaputt. Menschenkind legt seinen Kopf auf die vom Lachkrampf geschüttelte Ditte-Brust und schnurrt.

„Hat Dir auch das Foto mit ,Orgasmus statt Abendmahl' am besten gefallen?"

Wie infogeil doch Ditte ist! Mitten im Lachkrampf! Sie hört einfach auf, damit sie Menschenkind ausfragen kann.

„Sag bloß ..."

Ach, wie sie sich herzen, ach, wie sie sich knuddeln! Getrennt, haben sie zusammen wieder einmal die letzte Frist für einen Ausstellungsbesuch verstreichen lassen.

„Ja, wenn wir uns nicht richtig verabreden können ..."

Menschenkind holt aus seiner Tausendtaschenweste das kleine Graue mit der roten Schrift, die bildrepublik, den prima Katalog der längst abgebauten scheinschlag-Fotoausstellung und schlägt das Foto von Willi Ebentreich auf.

„Mensch, die mit der Tasche, das ist doch Hilde M.!"

„Welche? Die haben doch alle Taschen ..."

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

 
 
 
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