Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Herbstlaub vor Grabnischen

Kritik am Bau (I)

Von einigen spektakulären Großprojekten und den nachfolgenden Bauskandalen abgesehen, wird Architektur im Feuilleton selten thematisiert. scheinschlag will diese Lücke schließen. Ab dieser Ausgabe werden in loser Folge aufschlußreiche Details des Berliner Baugeschehens ausgelotet.

Das Chicago der Dreißiger, das Rockefeller-Center oder das Tiffany-Gebäude – zum jüngst fertiggestellten Beisheim-Center fielen der Presse nur altbackene Vergleiche ein. Das private Luxusviertel im Norden des Potsdamer Platzes, das dritte und letzte nach der Daimler- und der Sony-Stadt, ist auch wirklich nicht spannend. Die meisten Bauten sind dem Artdeco nachempfunden, der seinerseits vor 100 Jahren alles zitierte, was die Kunstgeschichte hergab. Der Tagesspiegel nannte das Ergebnis einen „faden dritten Aufguß"; dem ist nichts hinzuzufügen.

Am westlichen Rand des Beisheim, an der Leipziger Straße, ist das anders. Gleich neben den cremigen Bündelpfeilern des Marriot-Hotels wird die Straßenfront dunkelgrau und streng, ernst, fast düster. Das zehngeschossige Gebäude hört auf den Namen C1, ist für Büros gebaut und sieht auch so aus. Arbeite!, scheint es zu drohen, obwohl es im Beisheim-Center natürlich so wenig Arbeit gibt wie im Rest der Stadt. Außer zwei Luxus-Hotels und einem einzigen Café sind keine Nutzer zu entdecken; nur wenige Touristen beleben die Gassen. Lediglich bei den „luxuriösen" Eigentumswohnungen, für die man hier Werbung macht, zeigen sich die Makler optimistisch. Für die „exklusiven" Laden- und für die „hochwertigen" Büroflächen scheinen sich hingegen keine Mieter zu finden.

Auch das kleine, karge Foyer des C1 ist noch menschenleer, das Klingelschild nennt alle Mieter „K. Mustermann". Aber das macht nichts, denn das Haus ruht in Frieden. Dem abweisenden Erdgeschoß stehen die blinden Schaufenster mit der dezent grauen Immobilienwerbung gut, ein glitzerndes Geschäft wäre hier so unpassend wie in einem Mausoleum. Auch die Bürofenster darüber können auf Leben verzichten. Wie Grabnischen in die Wand gestanzt, in unerbittlichem Raster, vollsymmetrisch wie die ganze Fassade. Dazwischen die grüngraue Natursteinverkleidung mit ihrem simplen Fugenbild, oben drauf eine auskragende Dachplatte, die man versucht ist, Deckel zu nennen. Nur mit den Fensterbrüstungen haben sich die Architekten ein spielerisches Element gegönnt. Es sind Gitter aus Aluminiumguß, die vor die Fenster geschraubt sind. Von weitem sehen sie abstrakt-verschlungen aus, aus der Nähe erkennt man, daß sie schwebende Efeu- oder Weinblätter darstellen.

Die Architekten des C1, Johannes Modersohn und Antje Freiesleben, nennen ihr Entwurfsthema „Straßenwand". Eine möglichst harte Straßenfront sollte es werden, dahinter ein durchweg praktisches Gebäude mit flexibler Büroaufteilung; und als Extra eben (mal was fürs Auge) ein wenig frei gestaltetes Dekor. Das ist ehrlich. Bis vor kurzem war die Berliner Baukunst stets bemüht, Fassadendekor als Teil der Konstruktion oder wenigstens als Sonnen- oder Lärmschutz zu inszenieren, aber nie als zweckfreien Zierat. Ornament war etwas für Spießer, Denkmalpfleger oder alberne Postmoderne. Jetzt dürfen sich auch ernsthafte Architekten offen dazu bekennen, daß es ­ zumindest bei teureren Standorten ­ eben weniger um Funktionalität geht als vielmehr um Repräsentation, um schönen Schein und also: um Schmuck.

Am 18. März erhielten Modersohn und Freiesleben den Baukunstpreis der Akademie der Künste. Lobend zitierte das Jury-Mitglied Jürgen Sawade Mies van der Rohe: „Ich liebe die Einfachheit, weil ich Klarheit liebe." Außer knapper Funktionalität schien Sawade, der Große Klare der Berliner Architektenschaft, am C1 allerdings nichts Bemerkenswertes entdeckt zu haben. Kein Wort zur weihevollen Symmetrie, zur Düsternis und Schwere, zum todernsten Fensterraster. Selbst die Ornamentik blieb unkommentiert. Dabei zeugt es von Könnerschaft, daß das Dekor des C1 auch atmosphärisch hervorragend zum Gesamteindruck paßt: Denn woran denkt man bei Efeu und herabsinkendem Weinlaub? Man denkt an Herbst – und natürlich an Friedhof.

Das C1 ist mehr als eine gerade Straßenwand. Es ist großartige, traurige Poesie: Ein Bürohaus als Grab.

Johannes Touché

Foto: Antje Lüdecke

 
 
 
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