Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Musik für die Massen: Zukunftsmusik

Wenn 2004 so wird wie 2003 endete, dann braucht sich Berlin zumindest um seine musikalische Zukunft keine Sorgen zu machen. Kurz vor dem Jahreswechsel erschienen ein paar Alben, die Lust auf das neue Jahr machen.

Ganz vorne steht Berlin Insane (Pale Music). Schenkt man der Pressemappe Glauben und nimmt die Fotos der Musiker auf dem Cover ernst, die größtenteils nach Verbrecherkartei aussehen, steht dieser Sampler für das wieder eingeläutete Zeitalter des Existenzialismus. Vorbei die fröhlichen Easy-Listening-Partys in den bequem ausgepolsterten Lounges, ausgestattet von Sozialstaat und New-Economy-Blase. Die Realität ist zurück. Naja, ganz so arg ist es dann doch nicht: Garagen-Elektronik und Rockabilly Punk zwischen Peaches und Einstürzenden Altbauten lassen noch genug Platz für die guten alten Sperrmüllsofas, auf denen sich Stereo Total-Poptrash und Minimal-Akustik-Songwriter-Melancholie tummeln können. Die Zeiten werden härter, die Musik wird besser.

Nicht gerade auf der leicht eingängigen Seite steht das neue Berliner Label Laboratory Instinct mit Advanced Public Listening. Wie der Labelname schon vermuten läßt, geht es um elektronische Experimente. Die versammelten Musiker verstehen es zwar alle, auf hohem Niveau zu verzwirbeln und verdichten, bieten aber genug Handreichungen, daß bei jedem Hördurchgang die Entdeckungsreise vielschichtiger und vergnügter wird. Auf einmal hört es sich gar nicht mehr so kalt an, und irgendwann meint man sogar, den Begriff Wohnzimmer aus den Tiefen der Elektronik herauszuhören. Naja, nicht bei jedem Stück, aber das wäre auch langweilig.

Von vornherein entspannt geht es dagegen die Wahlberlinerin Corinne Douarre an. Sie bewegt sich mit ihrer klaren und doch fast immer sanften Stimme zwischen Kompositionen aus verspieltem Surrealismus und betonter Strenge. Mal sind ihre Chansons unter Einsatz elektronischer Klänge bunt instrumentiert, dann wieder ganz zurückgenommen, begleitet nur von einem schlichten Pianolauf. Auf Virages erzählt und singt sie von ihren beiläufigen Beobachtungen, mal aus Berlin und mal aus Paris. Das wirkt ganz leicht und unbefangen und ist dabei gekonnt und mit großer Sorgsamkeit zusammengesetzt. Wunderschön!

Ganz ohne Hektik geht es auch bei Old Man Happy zu. Vielleicht liegt es daran, daß die Aufnahmen für Vitamines & Weapons schon im Sommer entstanden sind. Auf der dazugehörigen Website ist zu erfahren, daß sich hinter diesem Projekt Mr. Pimpie Jackson verbirgt, der sich bisher eher mit elektronischem Dancefloorzeug beschäftigt hat, aber nun, mit Blick über die Berliner Dächer, seine Songwriter-Seite entdeckt hat. Lässige Gitarrenarrangements garniert mit elektronischen Tupfern. Das hat weniger mit Lagerfeuer als mit Fabriketage zu tun.

Marcus Peter

> „Vitamins & Weapons" ist über www.oldmanhappy.de und „Virages" über www.dourrane.de zu beziehen.

 
 
 
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