Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Operette bis Sadomaso

Die Marke Graz wurde positioniert ­ und jetzt?

Foto: Kunsthaus Graz
Foto: Kunsthaus Graz

Der Bremer Sport- und Kultursenator war begeistert. Die positive Stimmung überall in der Stadt, so der Politiker nach seinem Graz-Besuch im März, sei für ihn physisch spürbar gewesen. „Ungeteilte Begeisterung" will der Politiker wahrgenommen haben. Der Weg zum Erfolg, wie man ihn an dem steirischen Beispiel gelernt haben will: spektakuläre architektonische „Leuchttürme" – an der Weser ist der unvermeidliche Daniel Libeskind im Gespräch – und ein möglichst breit angelegter Kulturbegriff. Die Hansestadt strebt zusammen mit etwa zehn deutschen Mitbewerbern, darunter Kassel und das gesamte Ruhrgebiet, den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010 an. Aber ist das überhaupt erstrebenswert? Die Graz 2003 GmbH jedenfalls posaunt seit Jahresbeginn unausgesetzt Erfolgsmeldungen in die Welt. Um mehr als 30 Prozent seien die Übernachtungszahlen gestiegen, die Presseberichte gingen in die Tausende, und bei den Bilanzen soll am Ende sogar eine „schwarze Null" herausgekommen sein. In seiner wöchentlichen Programm-Postille spricht Intendant Wolfgang Lorenz – der Kulturmanager kommt vom staatlichen Rundfunk in Wien – von der „Erfüllung einer großen Erwartung", von dem „Wunder, daß sich eine ganze Stadt über Kultur in ihrer Befindlichkeit fast über Nacht umdreht und dann ein Jahr lang positiv gepolt bleibt".

Über Nacht? Das kann man so auch wieder nicht sagen. Lorenz' 0003-Spektakel verdankt sich nicht zuletzt einem kulturellen Klima, das auf einem ästhetischen Aufbruch um 1960 gründet, als eine nachrückende Künstlergeneration gegen die immer noch überall in Amt und Würden befindlichen Nazis rebellierte und es erstaunlich schnell schaffte, ihre andere Vorstellung von Kultur in der steirischen Landeshauptstadt, der Hitler den Ehrentitel „Stadt der Volkserhebung" verliehen hatte, zu institutionalisieren. Die Stadt sah sich gezwungen, den Rebellen ein Gebäude zu stellen; es kam zur Gründung des Forum Stadtpark, das lange Zeit ein lebendiger Ort für Künstler aller Sparten war. Alfred Kolleritsch begann damals, Anfang der Sechziger, mit seiner Literaturzeitschrift manuskripte, setzte sich für die Neoavantgarde etwa der „Wiener Gruppe" ein, als das kaum jemand tat in Österreich. Schließlich konnte, bemerkenswert genug, unter der Ägide konservativer Landespolitiker ­ die ÖVP ist in der Steiermark auf die Macht abonniert wie die CSU in Bayern ­ ein Avantgarde-Festival mit internationaler Ausstrahlung, der „steirische herbst", etabliert werden, lange vor 2003. In den Siebzigern war im Fahrwasser der manuskripte gar die Rede von einer heimlichen Literaturhauptstadt gleich des ganzen deutschen Sprachraums.

Dabei hat es durchaus Tradition, daß die zweitgrößte Stadt Österreichs mit ihren knapp 250000 Einwohnern die Millionenstadt Wien kulturpolitisch überholt. Schon Thomas Manns Adrian Leverkühn, der progressive Komponist, mußte nach Graz reisen, um die Salome von Richard Strauss hören zu können, die in der Hauptstadt der Zensur zum Opfer gefallen war; die 0003-Werbung degradierte Wien schon mal zum „schönsten Vorort von Graz". Nein, über Nacht ist der frische Wind nicht in die Stadt an der Mur gekommen. Verständlich, daß sich Leute wie Alfred Kolleritsch bei der 2003-Planung übergangen fühlten. Andererseits war der Impuls von Wolfgang Lorenz sicher nicht falsch, sein Programm nicht in erster Linie mit den kulturpolitischen „Platzhirschen" zu konzipieren, ganz auf das Erwartbare zu setzen.

Foto: Harry Schiffer Foto: Harry Schiffer

Passiert ist jedenfalls schon einiges in Graz, der Stadt am südöstlichen Rand des deutschen Sprachraums, von der aus Zagreb näher liegt als München. Es wurden auch Zeichen gesetzt, die bleiben, wenn die teure, mit internationalen Werbepreisen überhäufte Kampagne verraucht sein und der Touristenansturm sich legen wird. So konnten einige Großprojekte, über die jahrelang diskutiert worden war, im Zuge des Kulturhauptstadt-Jahres endlich realisiert werden, allen voran das spektakuläre Kunsthaus von Peter Cook und Peter Fournier, dessen biomorphe Formen sich neuesten Computerprogrammen verdanken und das bei den Spießern der Berliner Bauverwaltung bestimmt keine Chance gehabt hätte. Immerhin. Auch ein neues schickes Literaturhaus hat man sich geleistet, das wegen der Grazer literarischen Seilschaften allerdings in Gefahr steht, allzusehr zum Museum der „Grazer Gruppe" um Kolleritsch zu werden. Mit der Helmut-List-Halle, benannt nach dem Industriellen, der zwei Drittel der Baukosten spendiert hat, steht zudem ein hochgelobter neuer Ort für Konzerte und Musiktheater zur Verfügung ­ freilich mit explodierenden Betriebskosten, ein Klotz am Bein, wenn die Kulturgelder ab 2004 dann nicht mehr so üppig fließen werden. Das 58-Millionen-Budget von Graz 2003 haben sich Bund, Land und Stadt gedrittelt. Daß die 700 Millionen Euro Schulden, mit denen Graz jetzt schon zu kämpfen hat, damit etwas zu tun haben sollen, wird offiziell abgestritten. Glauben mag das so recht keiner. Die kulturelle Infrastruktur ist wesentlich verbessert worden. Doch wer soll das in Hinkunft bezahlen? Graz, so meint der Vize-Intendant Eberhard Schempf, müßte sein Kulturbudget um 5 Millionen aufstocken, um auch in Zukunft kontinuierlich Kulturereignisse mit internationaler Ausstrahlung zu lancieren.

Die „Insel in der Mur" hingegen, origineller schwimmender Veranstaltungsort, zugänglich sowohl von der Altstadtseite als auch von der weniger gut beleumundeten anderen Flußseite aus, war zunächst gar nicht auf Dauer angelegt. Doch kaum erfolgreich eröffnet, wurde der Ruf nach dauerhafter Sicherung laut; und als andere Städte drohten, das Ding wegzukaufen, machte man in Graz Nägel mit Köpfen. Unklar ist hingegen noch, ob die schattenhafte 1:1-Verdoppelung des Grazer Wahrzeichens, des Uhrturms auf dem Schloßberg, bleiben wird. Die Bevölkerung scheint jedenfalls keine Probleme zu haben mit diesen zeitgenössischen Akzenten mitten im „Weltkulturerbe" ihrer Altstadt. Mehr oder weniger gelungene Beispiele spektakulärer künstlerischer Interventionen überziehen die ganze Stadt. Da ist etwa der sogenannte Marienlift, der einen auf Augenhöhe mit einer Marienstatue befördert, eine riesige Spiegel-Installation, die zu „neuen Raumerlebnissen ermunterte", ein überdimensionales Sofa mitten in der Fußgängerzone und jede Menge Skulpturen. Diese auffälligsten 0003-Manifestationen sind großteils originell, hübsch anzusehen, Postkartenmotive; künstlerisch Wegweisendes ist nicht dabei.

Foto: Harry Schiffer
Foto: Harry Schiffer

Das Konzept könnte nun lauten: Event-Kultur, populistische Spektakel inklusive Feuerwerk für die Massen und die Touristen einerseits, um andererseits im Kulturhauptstadt-Jahr auch ernsthafte inhaltliche Akzente zu setzen. Das trifft aber nur zum Teil zu. Lautete einer der Werbesprüche „Graz darf alles", so schien die Stadt gleichzeitig gar nicht so genau zu wissen, was sie eigentlich will. Intendant Lorenz spricht so blumig wie vage von einer „großen Stadtunterhaltung zwischen uns", davon, „Neues zu riskieren, ohne das Alte aufs Spiel zu setzen". Ein inhaltliches Konzept existiert schlicht gar nicht. Man hat in Graz einfach alle Register gezogen: Man entsann sich sowohl des Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch (Venus im Pelz), der lange in Graz gelebt hatte, und richtete ein Festival und die Austellung Phantom der Lust aus ­ gleichzeitig aber auch des gebürtigen Grazers Robert Stolz (Zwei Herzen im Dreivierteltakt), „Stolz auf Stolz" nannte man einen dem Operettenkomponisten gewidmeten Schwerpunkt. Man richtete naheliegenderweise ein „Balkan Konsulat" ein und zeigte Kunst der südlichen Nachbarn, beglückte aber auch den „Problem-Bezirk" Gries mit künstlerischen Interventionen. Sowohl der steirische herbst als auch die Styriarte, das Festival des Grazer Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, wurden eingebunden; die Wiener Philharmoniker traten ebenso auf wie das Petersburger Mariinsky Theater. Es gab einen „Berg der Erinnerungen", eine Ausstellung über Kunst und Krieg, Symposien über Geopolitik in der Architektur und die „Poetik der Grenze". Kurz: Es war eigentlich für jeden etwas dabei ­ sogar für die Menschen, die man weder beim Avantgarde-Tanztheater noch in der „Kunstzone Flughafen" antreffen wird. Ernest Kaltenegger, der kommunistische Wohnungsstadtrat, propagiert einen erweiterten Kulturbegriff anderer Art: „Eine Kulturhauptstadt kann sich keine Substandardwohnungen leisten." Auf Kalteneggers Initiative wurden in alle Wohnungen im Besitz der Gemeinde Graz Naßzellen eingebaut; die Fliesen schmückt das 0003-Logo.

Foto: Manuel Gorkiewicz
Foto: Manuel Gorkiewicz

Wie es mit dem Kulturleben in Graz aber weitergehen wird und ob man davon ab 2004 noch besonders viel hören wird, ist unklar. In der freien Szene fürchtet man, Opfer der Budgetlöcher zu werden, während sich die Graz 2003 GmbH angeboten hat, die Grazer Kulturarbeit gleich dauerhaft und ganz zu übernehmen. „Jetzt wird ein Großteil des Geldes für die Werbung ausgegeben, nach dem Motto "hauen wir mal ordentlich auf den Putz'", sagt Ernest Kaltenegger, „später wird dann wohl die große Durststrecke folgen. Vor allem über die Nachfolgekosten gibt es keinerlei Konzepte." Die Bevölkerung indes wird bereits mit Plakaten auf die Olympia-Bewerbung 2012 eingeschworen.

Florian Neuner

 
 
 
Ausgabe 10 - 2003 © scheinschlag 2003/04