Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Gesund und munter

Sterbehilfe und unerlaubter Waffenbesitz:
WERTHER! im HAU2

Lessing wollte einen schreiben, der „Werther, der Bessere" heißen sollte: „Eine kleine kalte Schlußrede. Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen. Also, lieber Goethe, ein Kapitelchen zum Schlusse; und je zynischer je besser!"

Nicolas Stemanns WERTHER! hat sich an einer kalten Schlußrede versucht. Sein Jüngling mißtraut schon allen Punkten der eigenen Entwicklung, an jeder abgelegten Haut rächt er sich. Zynisch ist er bis in den Exzeß hinein, die Enttäuschung möchte keine Macht über ihn besitzen. Er ist fertig mit sich, da er mit nichts wirklich fertig geworden ist, am wenigsten mit seinen Wünschen. Darum kann er seinen Tod per Video-Beamer auch nur betrachten, anstatt sachgemäß zu sterben. Das taedium vitae greift so wenig nach ihm wie er nach Lotte greifen könnte, fürchtete er nur ihre Liebe nicht. Diese Furcht treibt ihn an und schafft sich in Lottes Verlobtem den Schild, der ihn schützt, zum Inhalt des eigenen Wunsches vorzudringen. Albert wird sein bester Freund. Werther sucht ihn im Publikum, um sich die Pistole zu erbitten. Der erstbeste Albert ist dazu nicht bereit; es geht um Sterbehilfe und unerlaubten Waffenbesitz für irgendeinen Werther, der jede Selbstachtung verloren hat. Wahrscheinlicher als sein Selbstmord wäre eine Situation, die verlangte, ihn von GSG 9-Schützen abknallen zu lassen. Als zweibeiniges Kunstwerk, unverstanden und unangemeldet.

Werther erkennt in Albert die Chance, Lotte endgültig nur als sein eigenes Symptom lieben zu können; am Leben scheitern zu dürfen für das Video, an dem er bastelt. Der Rivale, Produzent des guten Gewissens, indem er den Weg versperrt, ist ohnmächtig, sobald er zum Exekutor der Lust ernannt wird. Nur in der 4. Reihe findet sich ein Albert. Zuvor hat sich der Werther-Schauspieler Philipp Hochmair verabschiedet, um wiederzukommen mit Pappnase und einem Hut. Den Hut trug Goethe, da er sich auf römischen Ruinen räkelte und Maler Tischbein Portrait saß. Werther weiß schon, daß die Nacherzählung seines Falls ihn erwartet. Nichts kann ihm mehr mißlingen; was aus ihm wird, bestimmt ihn ganz. Hochmair erzählt die Leiden eines, der die Heiligsprechung seines Lebens selbst übernommen hat, da leben zu gefährlich wäre. Von dem Hang zur Archivwerdung bei Mittzwanzigern gibt dieser Werther eine Vorstellung. Auf der Flucht vor dem Kitsch kriecht aus dem romantique defroque wieder der Romantiker. Nicht die eigene Tragödie zu überleben, sondern sie überhaupt nötig zu haben, läßt ihn loslegen. Und keine Blamage vor laufender Kamera, so gut meint er es mit sich. Die Flaschenpost, die er da vorbereitet, ist wie der Briefroman Selbstgespräch; will aber gefunden werden und Sinn stiften an fernen Küsten. Jeder Beckettsche Krapp, den die Verzweiflung klug gemacht hat, wird ihn höflich vorlassen.

Konrad Engelschall

„WERTHER!" am 6. und 7. Dezember und wieder im Januar im Hebbel am Ufer (HAU2), Hallesches Ufer 32, Kreuzberg

 
 
 
Ausgabe 10 - 2003 © scheinschlag 2003/04