Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 
Foto: Amélie Losier Foto: Amélie Losier

Kranke Jugend

Eine Soap aus den Zwanzigern, leicht expressionistisch

Jung sein ist ganz schön anstrengend. Jeder weiß, daß es in dieser Zeit schwer ist, sich zurechtzufinden in der großen, weiten Welt, wenn man nicht so recht weiß, was man mit sich anfangen soll. Das kann Manchen krank machen. So ist es auch bei Marie und Desirée und ihren Freunden. Die beiden bewohnen zusammen mit einem Dienstmädchen viele Quadratmeter und zwei Stockwerke. Marie bereitet sich gerade auf die Verteidigung ihrer Dissertation vor, die Desi schon hinter sich hat. Die ist reichlich lebensmüde, wogegen Marie eine fast pathologische Betriebsamkeit an den Tag legt. Der Dritte im Bunde der Wohngemeinschaft ist Freder, der Hahn im Korb und ein versoffener Nichtsnutz, der Desi beglückt und Marie nachstellt.

Wem das zu sehr nach verkitschter Seifenoper oder Sitcom klingt, dem sei gesagt, daß diese Konstellation zu einem Drama gehört und schon knapp 80 Jahre auf dem Buckel hat. Krankheit der Jugend heißt das Stück des Österreichers Ferdinand Bruckner. Die Uraufführung war 1926, und die Zeiten waren nicht die besten. Fast 80 Jahre später kann man gewisse Parallelen nicht abstreiten, und das wird die Theatertruppe Puta Madre bewogen haben, das Stück zu inszenieren.

Das geschieht ganz sparsam und mit wenigen Requisiten. Schauplatz ist ausschließlich das Zimmer von Marie, um die sich das Stück auch dreht. Sie ist jung, emanzipiert, macht ihren Doktor und hat einen Freund, den sie aushält. Bubi wird er genannt und ist ein armer Poet, der wiederum ihrer Freundin Irene nachsteigt. Den Freundeskreis vervollständigt ein verkrachter Arzt namens Alt. Wollte man den allgemeinen Zustand der Verhältnisse beschreiben, trifft das Wort „dekadent" sehr gut. Junge, verwöhnte Menschen, die des Lebens überdrüssig sind. Die nicht wissen, was sie sollen oder wollen, die alles schon hatten und daran leiden. Jedenfalls stimmt das im Falle der lebensmüden Desirée, die sich ihren Liebhaber zur Tötungsmaschine hindressiert hat, aber auch gerne mal die kleinschwesterliche Freundin Marie vernaschen würde.

Also wäre Krankheit der Jugend eine frühe Form von RTL-Dokusoaps über reiche Kinder? Das ist das Drama nur zum Teil, zum anderen ist es eine Zustandsbeschreibung. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend gibt es noch den Gegenentwurf der „armen" Leute, die wenigstens wissen, wo sie hinwollen. Die kommen jedoch so krankhaft ehrgeizig daher, daß man sie einfach nicht mögen kann. Diese unterschiedlichsten Menschen haben eines gemeinsam: Sie sind krank. Heutzutage würde man sie zu einer Therapie schicken.

Der Truppe Puta Madre und deren Regisseur Jan Dirk Roggenkamp ist es gelungen, den Stoff ins Heute zu holen, erleichtert durch dessen depressive Grundstimmung. Hingegen erschweren die teilweise sehr pathetischen spät-expressionistischen Dialoge dankenswerterweise die Identifikation mit den Bühnengestalten. Man erkennt aber vieles wieder, das anders aufbereitet auch in modernen Stücken Thema ist. So scheint Sarah Kane nicht so weit von Bruckner entfernt. Genauso wie Kanes Stücke heute waren auch die Bruckners in den Zwanzigern große Bühnenerfolge. Was erneut zeigt, daß sich alles ändert und auch wieder nicht. Auf alle Fälle lohnt sich das Wiederentdecken dieses Autors, nicht zuletzt wegen des einprägsamen, um nicht zu sagen: expressiven Spiels der Truppe.

Ingrid Beerbaum

„Krankheit der Jugend" von Ferdinand Bruckner, aufgeführt vom Theater Puta Madre vom 18. bis zum 21. Dezember, jeweils um 20.30 Uhr, in der BrotfabrikBühne, Prenzlauer Promenade 3, www.puta-madre.de

 
 
 
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