Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Studienkonten und Stellenabbau

An den Berliner Hochschulen regt sich Unmut

Im Erdgeschoß des Hauptgebäudes der Technischen Universität (TU) stehen einige Studenten in einem Halbkreis um einen kleinen Fernseher. Zu sehen gibt es die auf Video aufgezeichneten Protestaktionen der letzten Tage: Studenten, die vor dem Reichstag unter dem Motto „Studenten schaffen Arbeitsplätze" demonstrieren oder in den Fluren des Roten Rathauses lernen. Mittlerweile dauert der Streik an der TU bereits mehrere Wochen an. Nachdem die dortige studentische Vollversammlung am 5. November beschloß, auf die katastrophale Bildungspolitik des Senats zu reagieren, haben sich die Proteste inzwischen ausgeweitet: An der Humboldt Universität (HU) beschloß man am 19. November den Streik, die Freie Universität (FU) zog einen Tag später nach. Seitdem fanden Institutsbesetzungen, Demonstrationen und unterschiedliche kleinere Protestaktionen statt. Auch in anderen deutschen Städten sind die Studenten in den Ausstand getreten.


Foto: Steffen Schuhmann

Grund für den wachsenden Unmut der Studenten sind die beschlossenen Etatkürzungen an den Universitäten sowie die geplante Einführung von Studiengebühren. Wissenschaftssenator Thomas Flierl (PDS) will sogenannte Studienkonten einführen. Das heißt, daß ein Hochschulstudium grundsätzlich gebührenpflichtig wird. Den Studierenden wird aber eine bestimmte Anzahl von Semesterwochenstunden gutgeschrieben, die geringfügig über dem Umfang der zum Abschluß notwendigen Lehrveranstaltungen liegt. Der Besuch von Veranstaltungen, welche in der Studienordnung nicht vorgesehen sind, für die Studierenden aber sinnvoll sein können, kostet somit extra. Ein nach diesen Kriterien bemessener „Langzeitstudent" soll mit bis zu 500 Euro pro Semester bestraft werden. Bei einem Fachwechsel ist mit der völligen Entleerung des Kontos schon weit vor der Beendigung des Studiums zu rechnen. Für das Wintersemster 2004/2005 wird bereits mit Zahlungen von 10 Millionen Euro aus den Taschen der Studenten gerechnet. Das Geld soll nicht etwa den ohnehin personell unterbesetzten und schlecht ausgerüsteten Universitäten zugute kommen, sondern den Landesetat aufbessern.

Die Kürzungen an den Hochschulen sind seit Sommer beschlossene Sache. Flierl zufolge gibt es nichts mehr zu rütteln: 75 Millionen Euro sollen zwischen 2006 und 2009 zusätzlich eingespart werden. Insgesamt sind derzeit 85000 Studienplätze der eingeschriebenen 137000 Studenten finanziert. Die TU, die von den Kürzungen am schlimmsten betroffen ist, erkennt die Sparvorgaben des Senats nicht an. Nach Angaben der Pressesprecherin Dr. Kristina R. Zerges, könnten ab 2004 bis 2009 in 32 Studiengängen keine neuen Studenten mehr aufgenommen werden. Der Präsident der HU, Jürgen Mlynek, präsentierte seine Sparpläne bereits Anfang Oktober: Die Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät und das Institut für Bibliothekswissenschaften sollen geschlossen werden, in anderen Bereichen, wie am Institut für Romanistik, soll die Stellenzahl halbiert werden. An der FU sollen die Institute für Musikwissenschaften und Indogermanistik abgeschafft werden, in den Fächern Geschichte, Soziologie und Psychologie fallen die Hälfe aller Stellen für Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter weg. Einschnitte wird es darüber hinaus in den Fächern Physik, Chemie, Biologie und Pharmazie, sowie bei den Bibliotheken und dem Botanischen Garten geben.

Angesichts dieser Darstellungen fragt man sich, wie die Studenten es künftig schaffen sollen, eine bestimmte Regelstudienzeit einzuhalten. Es ist ja aufgrund von Überbelegung bereits jetzt schwierig genug, die ausgewählten Seminare zu besuchen.

Einige Architekturstudenten der TU haben die Auswirkungen der aktuellen Sparpolitik auf Bundes- und Landesebene vor dem Fakultätsgebäude am Ernst-Reuter-Platz für die Allgemeinheit sichtbar gemacht. Unter dem Motto: „Aktive Verslummung ­ Berlin wird Weltstadt" haben sie aus alten Holzplanken, Wellblechplatten und Pappschachteln eine informelle Universität errichtet. Neben Feuern aus Blechmülltonnen und mit warmem Glühwein werden dort Vorlesungen und 24-Stunden-Tutorien, die sich mit den Zuständen der Universitäten beschäftigen, abgehalten.

Mit ihren Aktionen möchten die Studenten auf die Folgen eines „allumfassenden und globalen Ökonomisierungsdrucks" aufmerksam machen. „Mit den Privatisierungen wird nicht nur der Zugang zu Bildung beschränkt, sondern verstärkt auch inhaltlich Einfluß genommen", heißt es in einer Pressemitteilung der AG Inhalt. Damit ist vor allem die europaweit geplante Umstellung der Studiengänge auf Bachelor- und Masterabschlüsse mit Leistungspunktesystemen gemeint, deren Strukturen sich hervorragend für die Einführung von Studienkonten eignen. „Die Bonus-Malus Bestrafung" und die Verkürzung von Studienzeiten seien Muster, die an die Agenda 2010 angelehnt sind und eine „kopflose Übernahme ökonomischer Effizienzpostulate" darstellen, heißt es in der Streikerklärung von Professor Peter Grottian, der zusammen mit zwei seiner Kollegen vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der FU seit dem 11. November in den Lehrstreik getreten ist. Seiner Meinung nach müssen die Forderungen der Studenten radikaler werden. Angesichts von Vorschlägen, wie sie auf der Vollversammlung der FU gemacht wurden, man könne doch jeden Mittwoch von 14 bis 18 Uhr streiken und danach die versäumten Unterrichtsstunden nachholen, ist damit eher nicht zu rechnen.

Sonja Fahrenhorst

 
 
 
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