Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Legende vom natürlichen Geschlecht

Vom Feminismus zu Queer-Theorien

Der Feminismus hatte von Anfang an mit einer unüberwindlichen Schwierigkeit zu kämpfen: Einerseits sollten Frauen nicht aufgrund ihres Geschlechts anders als Männer behandelt werden. Schließlich kann das in einer Gesellschaft, in der vorwiegend Männer die einflußreichen Positionen besetzen, nur Diskriminierung bedeuten. Andererseits wurde im Feminismus, der stets versuchte, Theorie und emanzipatorische Praxis zu vereinen, die Kategorie der Frau bzw. des Weiblichen unermüdlich zementiert. Jede These, die erklärte, warum Frauen aufgrund ihres Geschlechts sozial ausgeschlossen wurden, legte gleichzeitig fest, was und wie Frauen sind und – unausgesprochen – sogar was und wie sie zu sein haben.

Diese Art der Normierung fand ebenfalls statt, wenn man die politische Gruppierung festlegte, der zur Emanzipation verholfen werden sollte. Sicherlich unterliegen sowohl deutsche Mittelstandshausfrauen als auch nordkoreanische Arbeiterinnen einer sexistischen Diskriminierung. Doch sobald sie eine gemeinsame Politik betreiben, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf so etwas wie eine natürliche Wesenheit des Weiblichen zu verweisen, die unabhängig jeglichen geschichtlichen, örtlichen und gesellschaftlichen Kontextes gilt.

Ausweg aus der feministischen Sackgasse

Kurz bevor frauenemanzipatorische Politik und feministische Kritik sich fast vollends lächerlich machten durch haarspalterische Quotenregelungsdiskussionen, esoterische Behauptungen wie die, ohne Männer würden keine Kriege geführt werden, oder separatistische Kleinkriege zwischen den Frauen, die die Zugehörigkeit zu mehr als einer Minorität für sich beanspruchen konnten, griff man auf hilfreiches Vokabular aus der englischen Sprache zurück. Dort unterscheidet man zwischen „sex", dem anatomischen Geschlecht, und „gender", der sozio-kulturell erworbenen Geschlechterrolle, die notwendigerweise kontextuell variiert.

Diese Neuorientierung ermöglichte auch neue Bündnisse. Denn wenn unter „gender" zwar auch, aber nicht ausschließlich die Anatomie begriffen wird, sondern sexuelle Objektwahl, Kleidungsstil, soziale Praktiken, kulturelle Interessen ­ eben alles, was das höchst komplexe Gefüge einer mehr oder minder traditionellen Geschlechterrolle ausmacht ­ ist es kaum noch plausibel, die gesamte Menschheit in nur zwei Gruppen einzuteilen. Stattdessen scheint es unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessener, nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Schwulen, Lesben, Transsexuellen beider Richtung, Hermaphroditen, Transen usw. zu unterscheiden.

Die Fokussierung auf soziokulturell existierende Geschlechterrollen statt auf eine wesentliche Einteilung in Männchen und Weibchen kommt sowohl den diskriminierten Frauen als auch den nicht minder geplagten Schwulen, Lesben und anderen Menschen zugute, die die traditionellen Normen des Geschlechts nicht erfüllen wollen oder können. Heterosexuelle Männer werden in dieser Aufzählung zu einer Minderheit und verlieren vollends ihre Legitimation, das gesellschaftliche Feld zu dominieren. Schwule und Lesben können sich des Vorwurfs erwehren, sie handelten gegen ihr natürliches Geschlecht. Schließlich besagen die Gender-Theorien ­ konsequent durchdacht ­, daß beispielsweise die Rolle eines effeminierten Schwulen in unserer Gesellschaft ebenso angelegt ist, wie die eines stramm heterosexuellen Familienvaters. So liegt es nahe, sich die als Schimpfwörter eingeführten Begriffe „schwul", „gay" und „queer" als stolze Selbstetikettierungen anzueingnen.

Queer-Theorien gegen Zwangsheterosexismus

„Queer" ­ dem deutschen Wort „quer" entstammend und als Lehnwort ins Amerikanische übernommen ­ wurde Anfang der Neunziger zum Überbegriff für die derzeit weitreichendsten Gender-Theorien, die den immer noch herrschenden Zwangsheterosexismus angreifen. Der Literaturwissenschaflter Andreas Kraß hat jetzt einen Sammelband zur Queer-Theorie herausgebracht. Das Buch Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität läßt sich in drei Themenschwerpunkte einteilen: Sexualität, Geschichte und Literatur.

Im ersten Aufsatz verdeutlicht Gayle Rubin die These, daß auch Sexualität nicht ausschließlich in biologischem Vokabular begriffen werden kann: „Der Hunger im Bauch gibt keinen Aufschluß über die Komplexitäten der Kochkunst." Stattdessen muß Sex als ein gesellschaftliches Produkt menschlichen Handelns verstanden werden, das ­ wie alle anderen sozialen Bereiche ­ von Interessenkonflikten durchdrungen ist. In diesem Sinne kann man Sex als politisch bezeichnen und folglich zum Nachdenken über eine „radikale Theorie der sexuellen Politik" anregen.

Die mittlerweile gefeierte Ikone der Queer-Theorie Judith Butler faßt in ihrem Aufsatz noch einmal die Thesen ihres mittlerweile zum Klassiker avancierten Buches Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter) zusammen. Darin verdeutlicht sie, daß jede Geschlechtsidentität als sich permanent wiederholende Konstituierung begriffen werden muß ­ gewissermaßen als „eine Imitation, zu der es kein Original gibt." Und wenn jede Geschlechterrolle eigentlich Travestie ist, kann das Spielen mit Gender-Attributen gegen die starren, als notwendig interpretierten Identitäten gewendet werden. Nur muß Butler ebenfalls feststellen, daß es keine Identität jenseits von Gender geben kann, sich also hinter dieser Mimesis auch kein willensbegabtes Subjekt befindet, das mittels bewußter Strategien die Subversion des Zwangsheterosexismus herbeiführen kann. Doch sollte man andererseits auch nicht die politische Kraft einer Neuinterpretation der Welt unterschätzen.

Im zweiten Kapitel des Buches sind Aufsätze versammelt, die die Wichtigkeit der Geschichtsschreibung für eine politische Bewegung ins Gedächtnis rufen. Erst wenn deutlich gemacht werden kann, daß unsere Gesellschaft historisch entstanden ist, kann auch ihre Veränderbarkeit gedacht werden. Und einige Theoretiker finden sogar in der Antike und im Mittelalter Anfänge einer Schwulen- und Lesbenbewegung, auch wenn sie sich damit der Gefahr unhaltbarer Anachronismen ausliefern. Die letzten drei Aufsätze machen sich auf die Suche homosexueller oder zumindest queerer Figuren, Situationen und Bilder in der Literaturgeschichte. Fündig werden sie in einer mittlalterlichen Novelle, in Shakespeares Komödien und in einem französischen Roman vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Die große Aufmerksamkeit auf diesen literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt scheint aber der akademischen Heimat des Herausgebers geschuldet zu sein.

Mit Ausnahme des Vorwortes und des Beitrages von Kraß selbst stammen alle Aufsätze aus den Vereinigten Staaten, die meisten von Anfang bis Mitte der neunziger Jahre. Neuere Entwicklungen der Queer-Theorie ­ beispielsweise die Wiederentdeckung des Körperlichen in der Gender-Problematik ­ finden sich in diesem Band nicht. Seine Aufgabe ist eher, wichtige Basistexte endlich dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Dabei wird deutlich, daß sich nicht alle gesellschaftstheoretischen Einsichten aus den USA mühelos auf hiesige Verhältnisse übertragen lassen. Konkrete Analysen im Umfeld der Queer-Theorien in Deutschland müssen wohl erst noch in Angriff genommen werden.

Katrin Scharnweber

> Andreas Kraß (Hg.):Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 14 Euro

 
 
 
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