Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kreuzberger Traditionen

Nachdem die neue Geschäftsführung schon mal begonnen hatte, durch Kündigung einiger Döner-Läden, häufigerer Reinigung und kleinerer Bauarbeiten den „Verwahrlosungstendenzen" des Zentrum Kreuzberg am Kottbusser Tor entgegenzuwirken, wurde auch das Interesse der Szene geweckt (siehe scheinschlag 2/03): Wolf Maack und Richard Stein planen im Flachbau West, dort, wo bisher noch die Möbel Oase wenig zeitgemäße Produkte feilbietet, das KaufhausKreuzberg. „Bazar, Shoppen, Relaxen, Informationsaustausch, Kiez und Party" könnten darin vereint werden. Nach dem Prinzip einer Markthalle sollen auf 1150 m2 Verkaufsfläche rund 50 Händler und Dienstleister ihre Waren anbieten. Für viele von ihnen ein Sprung in die Selbständigkeit.

Das Quartiersmanagement Kottbusser Tor ist begeistert und verlieh den Initiatoren im vergangenen Jahr sogar einen Sonderpreis im Ideen- und Gründerwettbewerb Friedrichshain-Kreuzberg. Auch die Initiative der Gewerbetreibenden am Kottbusser Tor, der Mieterbeirat und der Wirtschaftsstadtrat Lorenz Postler unterstützen das Projekt. Doch obwohl sich ausnahmsweise mal alle über das Ziel „Aufwertung" einig zu sein scheinen, muß die geplante Eröffnung des Kaufhauses im Juli ausbleiben. Die Zusage der Zentrum Kreuzberg GmbH vom September 2002, das KaufhausKreuzberg könne die Räume zu den gleichen Konditionen mieten wie zuvor die Möbel Oase, wurde nicht eingehalten. Die Kaufhaus-Initiatoren klagen über unklare Ansprechpartner, sich ständig ändernde Konditionen und unannehmbare Zusatzklauseln: Versprochene Baumaßnahmen werden gar nicht oder nur gegen finanzielle Beteiligung der Szene-Kaufleute vorgenommen, die Dachterrasse soll neuerdings 7,50 Euro pro m2 kosten, und verdächtig hohe Nebenkosten werden erhoben. Zudem verheissen Sonderkündigungsklauseln und eine notarielle Unterwerfungsklausel, die im Fall eines Zahlungsstreites eine Kontopfändung ohne gerichtlichen Beschluß ermöglicht, nichts Gutes.

Die Existenzgründungswilligen setzen nun auf Öffentlichkeit. Schließlich kann niemand wollen, „daß die Chance verspielt wird, einen ,krassen' Standort kreuzbergtypisch wiederzubeleben." Ihre Pressekonferenz auf der Dachterrasse am 27. Mai ähnelte einem Straßenfest. Potentielle Standmieter boten schon mal Klamotten, Pralinen und afrikanisches Handwerk dar, eine dem Anlaß angepaßte Version des Rauch-Haus-Songs von Ton Steine Scherben wurde vorgetragen, und es hingen sogar politische Transparente an der Brüstung. Man gab sich alle Mühe, den „Mythos Kreuzberg" nachzuahmen.

Werner Orlowsky, der bereits in den Siebzigern Gewerbetreibende und Mieter gegen Spekulanten verteidigte, schlug sogar – an diesen Mythos anknüpfend – vor, über eine Besetzung der vielen leerstehenden Geschäftsräume im Zentrum nachzudenken, um den Forderungen nach fairen Verträgen Nachdruck zu verleihen. Doch inwieweit die Szene sich wirklich in die Tradition der Kreuzberger Häuserkämpfer stellen wird, bleibt abzuwarten. Noch beschränken sie sich darauf, ihren finanziellen Einbußen und dem Verlust von Arbeitsplätzen nachzutrauern, die sich aus den geplatzen Verhandlungen ergeben haben. Vielleicht sind Ich-AGs eben doch nicht mit der Kreuzberger Tradition vereinbar.

ks

 
 
 
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