Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Mäzenatentum im Stummfilmkino

Ein schönes Haus in Weißensee

Wer die lange, beschwerliche Reise aus der Innenstadt nach Weißensee auf sich nimmt, um neue Orte zu erkunden, erlebt mitunter angenehme Überraschungen: Direkt gegenüber der Brotfabrik in der Gustav-Adolf-Straße steht ein großes rauhverputztes Gebäude im Bauhausstil, dem man ansieht, daß es schon bessere Zeiten erlebt hat. Es sieht nach langer Umnutzung und Leerstand aus.

Seit letztem Jahr ist hier wieder Leben eingezogen, zunächst in Gestalt des Orgelzentrums, das sowohl Instrumente verkauft als auch Unterricht anbietet. Beim Betreten merkt man sofort, daß dieser Laden nicht alles sein kann. Es riecht immer noch nach Farbe und etwas Undefinierbarem, die Orgeln mit ihren eichenen Verkleidungen verbreiten eine eher steife Atmosphäre. Dahinter beginnt die eigentliche Entdekkungsreise: Durch einen seitlichen Bogengang geht der Besucher ungefähr 80 Jahre zurück. Damals war dieses Gebäude ein Kino, das Delphi. Hier wurden Stummfilmklassiker, wie Das Kabinett des Dr. Caligari gezeigt, als sie noch neu waren und in Laufnähe vom Kino Filme produziert wurden. An diese glänzenden Zeiten erinnert seit kurzem der Name des Platzes unweit des Hauses: Caligariplatz.

Betritt man nun den alten Zuschauerraum, erstaunt sein guter Zustand ebenso wie die Tatsache, daß hier seit der Eröffnung des Hauses im Jahr 1929 kaum bauliche Veränderungen stattgefunden haben. Es gibt immer noch die Bühne, auf der die Leinwand stand, und einen Orchestergraben, der 16 Musikern zur Filmbegleitung Platz bot. Nur war die Zeit für ein Stummfilmkino denkbar ungünstig. Schon ein Jahr später kam mit M ­ Eine Stadt sucht einen Mörder der erste deutsche Tonfilm heraus. Bald wurden die Musiker durch eine Kinoorgel ersetzt, später hielt auch hier der Tonfilm Einzug.

In den fünfziger Jahren wurde das Delphi endgültig stillgelegt und diente als Lager, das Foyer wurde als Ladenlokal genutzt. Vor zehn Jahren kaufte der Investor Arnfried Binhold das Gebäude und erkannte das Potential. Die Lagernutzung hatte den Saal offenbar geschützt, so daß die architektonische Substanz wenig beschädigt war. Sogar Reste des alten Vorhangs überlebten an ihrem Platz und hängen auch noch nach den Aufräumarbeiten.

Sechsmal im Jahr finden hier Orgelkonzerte statt. Man kann die Räume für Feiern mieten, und seit neuestem wird auch Theater gemacht. Die Bredemeyer-Company hat hier ihr Ausweichdomizil gefunden. Ihre angestammten Räume in der benachbarten Brotfabrik werden umgebaut. Gezeigt wird momentan Titus Andronicus von William Shakespeare, ein Stück wie gemacht für diesen Ort. Ein Bühnenbild ist nicht nötig, der bröckelige Putz an den Wänden scheint schauerlich und lebendig genug. Und so toben die Schauspieler durch den Saal, die Galerie und der Rang sind in die wunderbare Inszenierung mit einbezogen. Weitere Theaterereignisse sollen folgen, denn solange der Saal noch unfertig ist und die genauen Bedingungen seiner Rekonstruktion mit der Denkmalbehörde noch nicht geklärt sind, steht er freien Gruppen offen.

Man will jedoch kein weiteres alternatives Kulturzentrum entstehen lassen. Wenn das Delphi instandgesetzt ist, wird es auch seinen morbiden Charme verlieren. Der alte terrakottafarbene Anstrich soll wieder an die Wände, der Zuschauersaal wird wieder bestuhlt. Noch liegt hier provisorisch eine grasgrüne Auslegware, die jederzeit entfernt werden kann, genauso wie die Stühle.

Später soll wohl auch die Bühne wieder zu ihrem Recht kommen. Bis dahin will man aber Nutzungen ausprobieren, wie der Nur-noch-Geschäftsführer Binhold betont. Die neue Besitzerin, Renate Fornahl, will an der Konzeption für das Gebäude nichts ändern. Man will selbst ein Kulturzentrum aufbauen, nachdem Verhandlungen mit möglichen Betreibern scheiterten ­ das Modell Mitte also, nur mit dem Unterschied, daß sich hier niemand den Ort illegal aneignete. Vielleicht ist das eine neue Art von Mäzenatentum, die die Stadt gut gebrauchen kann, wenn es denn so klappt, wie die Betreiber es sich vorstellen; als eine Art Mischkulturzentrum an der innerstädtischen Peripherie. Schaden würde es der Gegend ganz sicher nicht.

Ingrid Beerbaum

> Freie Gruppen können sich noch melden beim Orgelzentrum Berlin,
Gustav-Adolf-Straße 2, Weißensee.

Titus Andronicus noch am 7., 8., 10. und 11. Mai, jeweils um 20.30 Uhr,

Eintrittskarten unter fon 4714001

 
 
 
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