Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

In dieser halbtoten Stadt

Berlin im populären Lied ­ ein Rückblick

Mein eigener Erinnerungshorizont reicht nur knapp über ein Vierteljahrhundert hinaus. Die Scherben spielten '72 zur Besetzung des Bethanien auf, der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da, und zehn leere Flaschen Wein konnten schnell zehn Mollies sein. Die Hagen glotzte '78 schon in Farbe, von Ost nach West, konnt' sich gar nicht entscheiden. Auf'm Bahnhof Zoo im Damenklo ist's dann geschehn, fixte und fickte Christiane, es war so schön. '81 fokussierten mich Ideals blaue Augen, im Dschungel strahlte Neonlicht, da blieb ich kühl. Hab selig, du Westberliner Exotik aus Rausch und Randale – emulgiert zum treibenden Schmiermittel widerständiger Geister und bizarrer Blumen der Nacht.

Von außen und in english besungen, auferstand dagegen eine Chimäre, gekreuzt aus abgefracktem Zwanziger-Jahre-Mythos und weltuntergangsdüsterer Grausamkeit aus Mauer, Checkpoints, Wachtürmen und Weltkrieg Zwo. Ostberlin stand für Gefängnis, helle Tage waren unbekannt und Sommer, Sonne und Wärme existierten auch nicht. Die Gemüter waren schwer geplagt. Sex Pistols '77 auf Urlaub: „Well, I was waiting for the communist call/I didn't ask for sunshine/and I got world war three/I'm looking over the wall/and they're looking at me". Fischer Z glorifizierten '81: „Young faces new ideals, in search of paradise/they merge into the history/the theatre of memories that make up the feel of/Berlin - Berlin - Berlin - Berlin." Joe Jackson intonierte '83 den Abgesang: „Here in Berlin, people line up to get in/to wait for the end, living in glorious sin". Bruce Cockburn nahm es '86 apokalyptisch: „Dull twilight spits hesitant sulphur rain/sky been down around our ears for weeks/only once, gap-glimpsed moon over that anal-tetentive border wall".

Das Lebensgefühl der andren Seite hatten die von außen dennoch nie richtig erfaßt, im Unterschied zu Stephan Krawczyk aus Anlaß der Pfingstkrawalle '87: „Wir standen zu Pfingsten da unter den Linden/na wo schon, im Osten vorm Brandenburger Tor/der Westwind, der Tröster, lud von seinem Rücken/das Rockfest von drüben leis' in unser Ohr./Das Tor war geschlossen, wie an jedem andern/Ruhetag in dieser halbtoten Stadt/Wir fühlten uns wieder gehörig betrogen/und hatten die Mauer am Tore so satt". Rausgeschmissener Wolf Biermann sang Berlins meistgehaßte Berühmtheit '86 an die Wand: „bunt ist das ungeheuer verhunzt/wutkritzekratze mit echtem blut/ätzende sprüche, frisch ausser dose/wörter, verschwendete,ausgekotzte/salbungsvolle, die lügensatten/waschmittelstinkende wohlgeruchwörter/pißbudenwörter, hier ist die mauer/unser gesamtdeutscher DUDEN".

Als wir dann wieder Eins waren, brachte es Rio Reiser '93 auf den gesamtdeutschen Punkt: „Wieder inner City, wieder inner Stadt/Wen sie liebt, den frißt sie, keinen macht sie satt/Was nix bringt wird abgerissen, häßlich oder schön/Wer nix hat kann sich verpissen/Was für'n Wiedersehn". Dance-Biotop Mitte hielt sich einige Jahre in der textlosen Wüste von Kellerkatakomben und mutierte bald zur oberflächenkratzigen Vergnügungssteppe aus 1001 Nächten und ebensovielen Soundsystemen in nicht besonders hüftkompatiblen, dafür aber blümchentapetigen Wohnzimmern. Als endlich Dickes B aufwachte, seine Seeed 01 durchs Tor blies und mir auf's Neue verdeutlichte, was ich längst wußte, doch immer verdränge. „Im Sommer tust Du gut und im Winter tut's weh". Yeah, das ist der Berliner Duft.

Ach ja, die Love Parade. Soll keiner glauben, suffselige Massenaufläufe in der Hauptstadt wären Dr. Mottes Erfindung. Bewegen wir uns retour zum Stralauer Fischzug, dem größten Spektakel zu Zeiten der aufstrebenden Industriemetropole und baldigen Reichshauptstadt: „In jeder Hand ne Kümmelpulle blitzt/Und rechts und links die Knoblauchbrühe spritzt/Kennst Du das Dorf, wo die Kartoffeln blühn?/Dahin, dahin will ich mit dir, jeliebte Juste ziehn!"

Andi Seidel

 
 
 
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