Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Taktische Fragen?

Allmählich verliert Finanzsenator Thilo Sarrazins Schocktherapie ihre Wirkung. Öffentlicher Dienst und Nahverkehr, Lernmittelfreiheit, Wasserpreise, soziale und kulturelle Institutionen – immer das gleiche Spiel. Müde nimmt die Öffentlichkeit Transparente an den Fassaden, traurige Demos und all die Zeitungskommentare zur Kenntnis, in denen von „Horrorszenarien", „verheerenden Signalen" und endenden Fahnenstangen die Rede ist. Dann setzt sich Wowereit als milder Landespapa in Szene, indem er seinen wildgewordenen Finanzsenator „zurückpfeift" und die Vorschläge abschwächt. Und am Ende hat man immer auch etwas zum Freuen: So schlimm ist es ja doch nicht gekommen.

Zuletzt ging das so beim Nachtragshaushalt 2003, der am 10. April unter Qualen beschlossen wurde. Der nächste Coup Sarrazins: Er will den ohnehin arg geschröpften Hochschulen das Budget um bis zu ein Drittel kürzen. Aber die Unis haben vom Senat gelernt. Wenn Sarrazin seine Ankündigung wahrmacht, drohten sie zurück, würden sie einen Einstellungsstop verhängen und flächendeckend einen Numerus Clausus einführen. Die Humboldt-Uni behauptete gar, zum Wintersemester überhaupt keine Studenten mehr zulassen zu wollen. Auf einen Schlag tausende Studenten weniger ­ wollen wir doch mal sehen, wer hier wen schockt!

Aber sehen wir einmal von taktischen Fragen ab: Was sollen eigentlich die 100, 200 oder 600 Millionen Euro, die den Unis weggenommen werden, wenn der Stadt jährlich 3,3 Milliarden an Einnahmen fehlen? Leider nutzt die akademische Elite die öffentliche Aufmerksamkeit nicht zu einer gründlichen Diskussion. Lieber beschwört sie ihr amerikanisches Vorbild und „bittet" die Studenten zur Kasse.

Für diese Art von Reformvorschlägen ist ihr Applaus sicher; selbst bei der SPD erhält sie Unterstützung, deren Fraktionschef Michael Müller nach der nächsten Wahl Studiengebühren durchsetzen will – natürlich „sozial gestaffelt". Als Sozialdemokrat sollte er sich daran erinnern, daß der Staat bereits über ein hervorragendes, viele Jahrzehnte lang erprobtes Mittel verfügt, sozial gestaffelt seine Aufgaben zu finanzieren. Weiß er noch, was eine progressive Steuer ist? Die Reichen zahlen mehr, die Armen weniger, und allen zusammen kommt's zugute. Schon mal gehört?

jt

 
 
 
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