Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Abgetaucht in eine virtuelle Welt

Die Bahn auf der Suche nach der idealen Kundschaft

Theoretisch gibt es viele Gründe, mit der Bahn zu reisen. Neben der besseren Öko-Bilanz und der nicht erforderlichen Parkplatzsuche hat man, während man von A nach B unterwegs ist, Zeit für viele andere Dinge: essen, schlafen, lesen, Leute beobachten, seinen Gedanken nachhängen. Wenn man aus dem Fenster schaut und die Landschaft an sich vorbeiziehen sieht, läßt sich sozusagen die Summe dessen ziehen, was das Reisen als solches ausmacht, nämlich die räumliche Veränderung im Fortschreiten der Zeit.

Praktisch spricht aber eine ganze Menge dagegen, sich mit Hilfe der Deutschen Bahn AG fortzubewegen. Ihre Monopolstellung erlaubt es der Bahn, Nerven und Geldbeutel der Reisenden über Gebühr zu strapazieren. Irgendwie scheinen sie bei der Bahn noch nicht kapiert zu haben, daß sie sich ihren geplanten Börsengang schenken können, wenn sie weiterhin die Leute vergrätzen. Klar ist der Güterverkehr attraktiver, Container sind berechenbar und meckern nicht rum, wenn was nicht klappt, aber davon allein kann die Bahn nicht leben.

Während Mobilität und Flexibilität im Alltag vieler Leute an Bedeutung gewinnen, reformiert sich ein Unternehmen, das wie kein anderes für flexible Mobilität bzw. mobile Flexibilität steht, genau in die entgegengesetzte Richtung. Statt das Angebot der Bahn auf die Bedürfnisse der Reisenden abzustimmen, sollen diese gezwungen werden, sich dem Bahnangebot anzupassen. Wirklich innovativ ist das nicht. Im Gegenteil: Der Versuch, die Leute über den Fahrpreis auf wenig besetzte Züge „umzulenken", läßt ein in seiner Grundstruktur starres System unangetastet. „Wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist, muß sich alles ändern." – das bezieht sich zwar ursprünglich auf die Grundhaltung der sizilianischen Aristokratie angesichts der Veränderungen des späten 19. Jahrhunderts. Aber: Von Sizilien lernen heißt siegen lernen.

Das neue Preissystem bedeutet, daß Flexibilität, bisher ein Vorzug des Massenverkehrsmittels Bahn, nun teuer erkauft werden muß und so zum Privileg der Reichen wird. Überhaupt sind die Bahnmanager mehr an der „Qualität" als an der Quantität der Reisenden interessiert. Im Zuge der Privatisierung der Bahn wurde der Bahnhof als öffentlicher Raum abgeschafft. Seither kämpft die Bahn gegen das vermeintliche „Schmuddel-Image" der Bahnhöfe, indem diese zu Shopping-Centern gesäubert werden. Logisch, daß dort nur noch „saubere" Menschen erwünscht sind. In computeranimierten Modellen vom „Bahnhof der Zukunft" ist daher alles immer hell und blitzblank, es gibt nur wenig Menschen, jung, schön und in der Regel mit Laptop unterwegs. Einige der „Zukunftsplaner" scheinen schon vollständig in diese virtuelle Welt abgetaucht zu sein. Nur so läßt es sich erklären, daß im ICE kaum Platz für größere Gepäckstücke ist oder daß die nach dem Fahrplanwechsel im Dezember verstärkt und vor allem regelmäßig auf bestimmten Strecken auftretenden Verspätungen unter anderem darin begründet sein sollen, daß die Ein- und Aussteigezeiten zu knapp bemessen worden sind. Schon blöd, wenn die Realität nicht mit den Träumen am Computer übereinstimmt.

Dieser im übrigen etwas merkwürdige Versuch, die Fahrzeiten zu verkürzen, paßt ganz gut zur Propaganda der Bahn für das neue Preissystem: Alles sei nun einfacher. Die immer längeren Schlangen vor den Fahrkartenschaltern sprechen indes eine andere Sprache. Die neue Bahncard sei soviel günstiger als die alte. Aber da der Preisnachlaß nur noch ein Viertel statt der Hälfte beträgt, wird das Bahnfahren teurer. Besonders raffiniert auch die als „Aufwertung" zum IC angepriesene Verteuerung des Interregios, dessen Wagen dafür lediglich in einer anderen Farbe gestrichen wurden. Man könnte meinen, die Bahn verfolge als langfristige Strategie das „Mitropa-Modell": Die war zuletzt so unverschämt teuer, daß immer weniger Leute kamen, und weil sie dadurch unrentabel war, wurde sie einfach eingespart.

Zum Schluß soll aber auch noch was Positives gesagt werden: Die Bahn ist ein hervorragendes Thema zum Smalltalk, auf Parties oder sonstwo. Selbst wenn die Angesprochenen nicht zu den persönlich vom Bahnleid Betroffenen gehören, gibt es garantiert irgendjemanden in der ferneren Bekannt- oder Verwandtschaft, dem da neulich was passiert ist, also wirklich, die Bahn mal wieder, unglaublich!

Carola Köhler

 
 
 
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