Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Kneipen schließen schon um Mitternacht

Herausforderung Gropiusstadt

Gerade einmal zehn Minuten mit der U-Bahn liegt die Gropiusstadt vom Hermannplatz entfernt. Fast jeder kennt sie als die Siedlung, in der Christiane F. aufgewachsen ist, und demgemäß stellt sich auch heute noch jeder diese größte Westberliner Neubausiedlung als eine Art Ghetto vor. Vorurteile beherrschen das Bild des durchschnittlichen Innenstadtbewohners von diesem Stadtteil. Doch kaum einer macht sich auf den Weg, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Wozu auch, es läßt sich doch viel bequemer über die Probleme von São Paulo und Lagos diskutieren, als sich ein unvoreingenommenes Bild der Heimat von Zehntausenden Berlinern zu machen.

Umso lobenswerter ist das Kunstprojekt, das seit über einem Jahr die Künstler und Kuratoren Birgit Schumacher und Uwe Jonas mit der Unterstützung der Wohnungsbaugesellschaft GEHAG betreiben und nun in einem Katalog der breiten Öffentlichkeit vorstellen. Die beiden stellen Künstlern aus ganz Europa eine kleine Wohnung für zwei bis drei Wochen zur Verfügung, die zum einem als Rückzugsmöglichkeit dient, zum anderen aber auch als Ausgangspunkt, um Kunstprojekte vor Ort und mit Bezug auf die Bewohner der Gropiusstadt zu realisieren. Ungewöhnlich für die verarmte Berliner Kunstszene ist, daß für die Verwirklichung von Kunstwerken auch ein kleines Budget zur Verfügung steht.

Für viele Künstler ist es das erste Mal, daß sie sich mit der Situation in einer Trabantenstadt auseinandersetzen. Die typische Infrastruktur eines Szeneviertels fehlt: keine Galerien, und die wenigen Kneipen schließen schon um Mitternacht. Aber auch die Bewohner, für die Kunst oft nur der röhrende Hirsch über dem Sofa ist, stellen eine besondere Herausforderung dar, zumal die Bevölkerung hier hoffnungslos überaltert ist. So bestehen auf beiden Seiten Vorbehalte, die zu überwinden sind.

Da ist der Ansatz von Schumacher und Jonas geradezu eine Provokation, Künstler für die Projekte auszuwählen, die eher stille, unscheinbare Interventionen entwickeln als spektakuläre Aktionen, die durch Hinweisschilder und Medien als Kunst geadelt worden sind. Auch für die GEHAG war dies anfänglich ein Problem, denn sie erhoffte sich durch das Vorhaben eine erhebliche Attraktivitätssteigerung für die Gropiusstadt. „Aber für uns steht im Vordergrund, daß die Kunst für die Anwohner entstehen soll, nicht für eine Kunstszene, für die der Besuch dieses Projektes nur ein weiterer Punkt wäre, der abzuhaken ist", so Uwe Jonas und weiter: „Wichtig ist uns die Förderung der Kommunikation ­ zwischen Künstlern und den Menschen, die hier leben, und zwischen den Bewohnern überhaupt."

Daß dies zumindest ansatzweise gelungen ist, verdeutlichen die Diskussionen, verursacht z.B. durch die Sandkastenförmchen von Ingo Gerken, die den Idealentwurf der Siedlung von Walter Gropius aus den Fünfzigern darstellen und auf den Spielplätzen verteilt worden sind. Aber auch die provokativen Schriftzüge von Otto Karvonen brachten die Leute dazu, die zahlreichen Wege und Plätze zum Meinungsaustausch zu nutzen. Dokumentiert ist dies nun in einem kleinen Jahrbuch mit Beiträgen aller 18 Künstler, die im ersten Jahr an dem Projekt teilgenommen haben. Dort können all jene, auch anhand zahlreicher Fotos, einen Eindruck von der Gropiusstadt bekommen, für die die zehnminütige U-Bahnfahrt vom Hermannplatz zu lange ist.

Spunk Seipel

 
 
 
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