Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Weihnachten 2003 (Teil IV)

Wintersport

Der Winter ist doch immer noch auf Berlins Straßen am schönsten. Wer will schon Eislaufen gehen oder gar in den Skiurlaub?! Beim ersten Schnee heißt es wieder: Das Leben selbst in die Hand nehmen! Den Naturgewalten trotzen, der Gefahr ins Auge sehen, mit 100 PS zum Tanz auf dem Eis! Winterreifenhaben wir nicht, brauchen wir nicht, scheißen wir drauf. Nur Weicheier und Rentner fahren mit Bus oder Bahn, wenn der Winter seine eiskalte Fratze zeigt. Und wenn's Stunden länger dauert, was soll's: Der Weg ist das Ziel. Endlich mal ausprobieren, wie ein dreifacher Rittberger auf vier Rädern aussieht: am liebsten auf dem Berliner Ring.

Sonja John

Es ist Winter, und alle hauen ab

Das ist ätzend, weil die Band nicht proben kann und wichtige Entscheidungen mal wieder warten müssen, bis der Herr oder die Frau aus dem sonnigen Süden zurückgekehrt ist. Sich mit einer Flugzeugrakete mal eben um die halbe Welt schießen zu lassen, halte ich immer noch für einen recht verschwenderischen Luxus. Arme Atmosphäre, die bekommt tagtäglich tausende Dreckinjektionen in ihre austauscharmen Schichten.

Warum kostet ein Flug von Ägypten nach Deutschland dreimal mehr als umgekehrt? Weil man hierzulande keine Steuern auf Flugbenzin zahlen muß? Wir sind das auserwählte Volk der Vielreiser. Ich hasse auserwählte Völker. Alle sollten gleiche Möglichkeiten haben, und geflogen werden darf nur das Nötigste.

Und dieser Schwachsinn, die Bahnpreise durch den jüngsten Wegfall des Gute-Abend-Tickets oft fast zu verdoppeln, muß natürlich auch aufhören. Bahnfahren wird teurer, Inlandsflüge billiger ­ nix gerafft aus der jahrelang erworbenen Erkenntnis, daß massenweises Inlandsfliegen überflüssig ist?

Besser zu Hause bleiben und um die Wette schlottern.

Carsten Joost

Ritter-Eck, Bochum-Weitmar

Ein Rückzug in die Lautlosigkeit

Keine Musik, tote Musik, Todesmusik?

Die Agonie nimmt kein Ende

Noch einmal die stillen Lieder

Trink dein Bier aus, das ist keine Wartehalle!

Das ist mir scheißegal, ob du Alkohol trinkst!

Wir können doch sowieso nichts ändern.

Die Windrichtungen sind schuld.

Das Zitat scheint uns also erst einmal wenig zu nützen.

Anhaltende Düsternis

Die Gaststube ist nur schwach beleuchtet.

Die Wirkung ist lähmend.

Sollte er nicht heute mit seinem Los zufrieden sein?

Das gibt die Wirtin zu bedenken.

Wo er doch viele Freunde habe hier

Man hat wenig Wahl.

Ihr regt euch auf!

Wahrheiten über das aus dem Zusammenhang Gerissene

Er lebt seit 1969 in Deutschland.

Wer Steuern zahle, habe die gleichen Rechte.

Oder so ähnlich.

Bis zur Ununterscheidbarkeit gedämpft

Ist alles.

Florian Neuner

Kreuz des Südens

Auf in den Süden. Dorthin wo die Sonne die Sultaninen reifen läßt. Wo die Wellen des Ozeans sachte auf glattem Sand anrollen. Wo die Luft flirrt, die Zikaden zirpen und ein Ölbaum Schatten spendet. Nachts am Himmel das Kreuz des Südens. Sich locken lassen. Kanaren – hin und zurück nur 400 Mark.

Zusammen mit anderen sich in einem enormen Plastikbecher wiederfinden. Die Leute hinter uns sind schon besoffen, lassen sich von der Stewardeß ständig Schampus nachgießen. Sie singen: Auf der Reeperbahn nachts um halb eins. Landung in Las Palmas. Auf der Freitreppe Hitzekeule dumpf auf den Hinterkopf. Oh Gott, wo ist Wasser, wo ist der Strand. Ein Passagier mit Weihnachtsmannmütze weiß es. Er weist den Weg eine Landstraße lang, die über öde Felder führt. Wir sind benommen von der Hitze, vom klebrigen Schampus und vom Gehuppel in der Luft – da huppelt man in einem Gefährt herum wie auf einem Ochsenkarren und hat nicht einmal einen Boden unter sich – wir sind im Morgengrauen aufgestanden, und nun ist Mittagszeit, und wir stehen vor einem flachen Gebäude auf freiem Feld in der Nähe einer Stadt mit Namen Las Palmas und fragen uns, was das ganze eigentlich soll. Die Weihnachtsmänner werden mit einem Bus abtransportiert. Wir schultern traurig unsere Taschen und folgen dem Weg des Santa Claus. Sie führt in ein Dorf und schließlich ans Meer. Es ist heiß, und wir wischen uns den Schweiß von der Stirn. Rechter Hand führt ein riesiges Rohr aus Beton zum Wasser. Daneben liegt ein toter Hund, weiß und dick, mit gerade in den Himmel gestreckten Beinen. Ein friedliches Bild. Wir strecken uns daneben aus und besaufen uns mit dem Bier, das wir im Dorf gekauft haben. Nachts schlafen wir auf dem Acker ein paar Schritte entfernt und fragen uns, was hier eigentlich wächst, wenn hier was wächst. Stündlich schrecken wir hoch, kerzengerade mit stierem Blick in die Luft hinauf, die dröhnt als sei die Apokalypse gekommen, und gleißendes Licht erhellt den karstigen Acker, uns, unsere Flaschen und den toten Hund. Dann ist wieder Stille. Der Nachthimmel, die Zikaden zirpen. Schau, sage ich, da am Horizont ist das Kreuz des Südens.

Tina Veihelmann

Auf in den Norden

MDie meisten, die sich im Winter genötigt sehen, die Stadt zu verlassen und anderswo Urlaub zu machen, sind einem Irrtum aufgesessen. Es stimmt einfach nicht, daß man einen Winterurlaub nur im Süden oder in den Bergen verbringen kann. Der Norden, besser gesagt der Norden Deutschlands, ist ein ideales Winterausflugsziel. Ich hatte mein Erweckungserlebnis vor wenigen Jahren in Ostfriesland.

Die Ferienwohnung war relativ billig, die Räume großzügig ausgestattet. Wir verließen nur selten unsere Unterkunft; immer, wenn wir in die Nähe der Nordsee kamen, war gerade Ebbe, und ansonsten gibt es in Ostfriesland ja nichts wirklich Großartiges zu besichtigen (abgesehen vielleicht vom riesigen Blechquader des Brauhauses Jever, hineingehauen mitten ins Spielzeugstadtidyll). Nichts lenkt einen also von den Dingen ab, die man tatsächlich zu tun gedenkt: Alexander lag bekifft vorm Fernseher, ich betrunken im Bett, und Gabi machte die Fenster auf und zu. Manchmal setzten wir uns auch zusammen und redeten unsinniges Zeug.

Höhepunkt war ein angenehm unspektakuläres Silvester: Gegen Mitternacht gingen wir zum Hafen von Dornumersiel, lediglich eine bessere Anlegestelle. Es war natürlich wieder Ebbe, es gab kein großes Böllergelärm, und die vornehm zurückhaltenden Eingeborenen belästigten uns nicht mit hysterischem „Prost Neujahr!"-Gejohle. Wir standen eine halbe Stunde leicht frierend so herum, liefen zurück zu unserer Unterkunft und legten uns dann auch bald schlafen.

So lernte ich ostfriesische Gastfreundlichkeit kennen: Die Leute, das Land und das Meer lassen einen in Ruhe. Und das ist wahrlich nicht das Schlechteste.

Roland Abbiate

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