Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Weihnachten 2003 (Teil III)

Herzland Gebilde

Winter Heimat Röcheln der Väter Keuchen der Mütter Tag und nachts verschliffene Sprache feucht geschürzte Weihnachtslippen fingierte Langmut Dauermattscheibe Drittes Programm hart über die Ohren Reden vom Essen dem Schnee der vielleicht LANDSCHAFT ZEHTIEF und Vorsicht Bissiger Hund Witziger Herr die Häuser wie Plaque Mundgeruch ungültiger Architekten im Mittelstandsgebiet die Tische biegen sich Zimtfrüchte Jägermeister Raumduft Frische die Jalousien ZUGEZOGEN vor lauter Nachbarn auch sie sammeln die neuen Münzen und kommen gern vorbei für Feste der Liebe bei vierundzwanzig Grad vor beleuchteten Schränken Hirschbildern künstlichen Kaminen mit der Lüge von Feuer pelzt man einander richtet den Blick freundlich auf Tüll und Tupper Plastikparkett mit Sicherheit taucht stoisch ein Kuckuck seine Markierung ans Ohr,

Ron Winkler

„Fahren Sie mich nach Hause!"

Einen Tag im Jahr immerhin gibt es, an denen die Arbeit der Taxifahrer Spaß macht: In der Silvester-Nacht wird man für all die demütigenden Wartestunden an den Halten entschädigt. Der bettelnde Blick liegt – insbesondere in den frühen Morgenstunden – nicht mehr in den Augen der Fahrer, sondern in denen der Möchtegern-Fahrgäste. Wer nicht gefällt, wird auch schon mal stehengelassen. Schließlich wartet der Nächste schon eine Ecke weiter. Die Auswahl steigt natürlich bei Kälte und Regen. Leider stellt sich bei derartiger Wetterlage ein unangenehmer Nebeneffekt ein: Silvester ist schließlich die Nacht der verordneten guten Laune; also hat jeder Fahrgast einen lockeren Spruch auf Lager. Jeder zweite denselben: „Na, dann wünsch' ich Ihnen einen Guten Rutsch. Haha." 20 mal derselbe Witz in einer Nacht kann nur durch erhöhtes Trinkgeld entschädigt werden. Aber bitte nicht mit dem Zusatz: „Sie Arme, Sie müssen heute nacht arbeiten!"

Susann Sax

Wärme der Solidarität

Man trägt sein Bier durch Mitte oder Prenzlauer Berg spazieren und beobachtet die Fassaden. Wo Licht und Krach nach draußen dringen, kehrt man ein, trinkt, raucht, spricht, tanzt und was einem noch dazu einfällt. Niemand fragt nach einer Einladung oder wen man kennt. Und wenn einem die Umgebung nicht hinreichend zusagt, findet man drei Blocks weiter eine andere Feier. Diese Offenherzigkeit wird nirgends so kultiviert wie in ostdeutschen Großstädten im Winter. Berlin wäre in der kalten Jahreszeit wesentlich unerträglicher ohne dieses Phänomen, für das sich jemand noch einen schönen Namen ausdenken müßte.

Roland Kirberg

O moroz, moroz

Entgegen einem verbreiteten Irrglauben ist in Sibirien nicht immer Winter. In den großen Städten entlang der Transsibirischen Eisenbahn, die ungefähr auf einem Breitengrad mit Kopenhagen liegen, fällt der erste Schnee Anfang Oktober, der letzte immer pünktlich am 1.Mai. Dauerfrost herrscht in den Monaten November bis Februar. (Zum sibirischen Frühling, der danach einsetzen sollte und für Wochen Matschwüsten entstehen läßt, siehe scheinschlag 5/01.) Der Sommer von Mitte Mai/Anfang Juni bis Ende August ist eine Katastrophe, zusammengesetzt aus penetranter Hitze und Stechmückenschwärmen.

Die sibirische, die russische Kälte, das muß klargestellt werden, unterscheidet sich von der europäischen dadurch, daß sie eine trockene Kälte ist und deshalb weniger stark empfunden wird. Bis -20 Grad läßt sich's komfortabel leben, wenn viel Schnee fällt, können geneigte Rezipierende einer Winter- und Frostmetaphysik frönen. Die Sibirjaken jedenfalls lieben ihren Winter, solang er's nicht zu arg treibt. Hart wird's ab -30 Grad, das Klima schränkt die Bewegungsfreiheit ein, mehr als eine Viertelstunde kann man kaum im Freien verbringen, selbst Spezialkleidung kann nicht mehr viel ausrichten. Ungefiltertes Einatmen der Luft schmerzt. Physiologisch interessant ist der Heißhunger nach der Rückkehr aus der Kälte, die also buchstäblich an's Eingemachte geht. Ab -40 Grad gibt's kältefrei, und die Straßen sind fast menschenleer.

Perioden mit extremen Frösten dauern meist zwei bis vier Wochen. Wenn's ein warmer Winter ist, gibt's nur eine solche Periode. Wirklich anstrengend für den Organismus sind die ständigen enormen Temperaturschwankungen: von einem Tag auf den nächsten von 0 auf -20 Grad oder umgekehrt.

Von den Berichten in den deutschen Medien über Kältekatastrophen in Sibirien kann man das meiste unter antirussische Propaganda verbuchen. Wenn ich mich in solchen Fällen besorgt bei meinen sibirischen Bekannten nach ihrem Wohl erkundige, wiegeln sie ab: Es sei zwar sehr kalt, aber das komme eben vor im sibirischen Winter.

Thomas Keith

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