Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Weihnachten 2003 (Teil II)

Arme Tiere

Im Winter müssen sie noch mehr leiden. Zum Beispiel die Vögel. Die kleinen Vögel finden nichts zu fressen. Also müssen sie sich erniedrigen und sich kopfüber an die Fettbällchen hängen, mit denen die Menschen die Zweige der Bäume dekorieren. Esel und ähnliche Tiere, die beim Zirkus arbeiten, werden in der Vorweihnachtszeit in Fußgängerzonen abgestellt. Da müssen sie den ganzen Tag große traurige Augen machen. Sie werden vorher nicht gefüttert, damit sie Mitleid erregen. Die Menschen denken: Das arme Tier, ich will etwas Geld in die Büchse werfen, damit es sich was zu essen kaufen kann. Aber so läuft das nicht. Das Tier muß das ganze Geld beim Zirkusdirektor abgeben. Der kauft sich Schnaps davon. Seine Tiere schreien nämlich Tag und Nacht vor Hunger. In nüchternem Zustand hält er das nicht aus. Manches verpfuschte Tierleben beginnt mit dem Weihnachtsfest, wie man weiß. Kleine Hunde und Katzen oder Kaninchen werden an Kinder verschenkt. Ein paar Wochen oder Monate werden sie lieb gehabt und dann ausgesetzt. Hoffentlich bringt ein guter Mensch sie ins Tierheim, bevor sie von den Häschern der Fettbällchenmafia geschnappt werden und ein grausamer Kreis sich schließt.

Simone Schöler

Hiver, hiver! Que me réserves-tu?

Das Minus 10 von heute fühlt sich an wie Minus 20. Der Winter in Berlin kann so hart sein, wie der Sommer schön ist.

Die Straßen sind leer, jeder bereitet die Feiertage und den Besuch bei der Familie vor. ça me donne le bourdon! Die Füße sind taub vor Kälte, die auch das Gesicht wie Nagelspitzen trifft, die Umrisse verschwinden unter dicken Mänteln, Mützen, Schals. Alles bleibt eingeschlafen, die Liebe verkrampft in den Kneipen.

Pourquoi ai-je déménagé ici? Ach ... der Glühwein, der Geruch der Ofenheizung, den eigenen Atem beobachten, das Licht von Berlin, der Schnee, der alle Geräusche schluckt ... Es lohnt sich doch, zu warten, bis die wärmeren Sonnenstrahlen die ersten Schmetterlinge wecken !

Amélie Losier

Weihnacht (Remake)

Es war Weihnacht. Ich ging über die enge Allee. Der Asphalt war wie Schnee. Es war kalt. Die Luft war laut. Kein Schweigen, kein Halt. Die Skyline war rund. Der Himmel bunt. Das Neon gesund. Mond und Sonne eingefangen. Alle Sterne aufgehangen. Wer sang. Ich hörte nicht hin. Wer sang wieder. Ich sah einen Knaben auf mich deuten. Es war das Christkind. Sein Kleid weiß und rein. Der Heiligenschein eine grell leuchtende Scheibe. Es legte ein Gut in meine Hände. Ich kniete zu seinen Füßen nieder. Es öffnete sein Maul. Die Zähne falb und krank. Es hatte Hunger. Ich roch seinen Atem. Er stank nach altem Brot. Es biß mir den Kopf ab. Altes Marzipan. Es sang weiter.

Marc Degens

Mein Stolz, und alles ist gut ...

und riecht nach Weihnachten. Steal This CD lautet der Titel des System Of A Down-Albums. Ich lasse es gleich liegen und begebe mich in die öffentliche Bibliothek, borge dort Holidays In The Sun der Sex Pistols von '77. Jugendarbeitslosigkeit und Punk wurden Hits. Berlin kann 2002 gemein und öffentlich nicht mehr zahlen. Ich lege die CD der Beach Boys ein. 1965, „Little Honda" vom Album All Summer Long ist superhedonistisch, sehr gut. Brian Wilson wurde später untersagt, „Hang On To Your Ego" zu singen. John Lydons „God Save The Queen" reimte sich verbotswürdig auf The Fascist Regime. Stolze Kinder scheißen auf Weihnachtsmänner und korrupte Pop-Kultur wie Skateboardpunkrock, Spexmodestrecken, Großraumlimousinen-Hip-Hop, Kurt Cobains Tagebücher für 30 Euro. Reiche brauchen Einbände statt öffentliche Bibliotheken, damit Guerillero Cobain länger hält und schwerer wiegt als ein Download. Ihnen entspringt die Grillwalker-Logik, die herz- und nervenberaubte Servicesklaven gebiert. Grimmelshausensche Szene vor dem Mediamarkt im Wedding. Jeder Schnappschuß ein Hieronymus Bosch. Schrieb Cobain nicht die Zeilen „Serve The Servants"? Musik brennen ist ein Geschenk, sechzig Titel im Monat sind im allgemeinen gut für den Bildungsgeschmack.

Jörg Gruneberg

Kunst im Keller

Endlich klingelt der Kohlenmann. Vier Stunden habe ich gewartet, wie immer. Wahrscheinlich ist das wieder so ein Muffel, der einen Haufen Trinkgeld haben will, nur fürs Reinkippen der Kohlen in den Keller. Stapelbrikett, daß ich nicht lache!

Aber dieser fängt wirklich an zu stapeln. Und sagt: „Bei Ihnen ist doch genug Platz und so schön aufgeräumt". Mein Keller ist aufgeräumt, hoho!

„Wissense, wa'ick allet schon jesehn habe?" Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen. Stattdessen erzählt mir der Mann, daß er schon 25 Jahre Kohlenträger ist und den Job mag. Und daß er nur ein halbes Jahr lang arbeiten muß. Den Sommer kann er beispielsweise auf dem Motorrad in Florida verbringen. Irgendwas muß ich falsch gemacht haben, denke ich. Aber von Kohlenträgerinnen hat noch niemand was gehört. Eine Emanzipationslücke!

Davon abgelenkt bemerke ich erst spät, daß der Mann an der Kellerwand eine Skulptur aus Brikettschichten errichtet. In sanften Wellen bietet sich das Heizmaterial dem Auge dar. Es erinnert an die Erde und ihre Schätze, daran, wo wir alle herkommen und wieder hingehen werden. Mein Keller ist ein Kunstwerk! Ich bin ratlos. Hoffentlich wird der Winter nicht zu kalt.

Ingrid Beerbaum

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