Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gelbe Fassaden und sichtbare Brachen

Matthieu Husser und die Farben der Stadt

„Was mich am meisten bei den Sanierungen in Berlin verwundert, ist die Eintönigkeit der neuen Fassadenfarben", stellt der französische Künstler Matthieu Husser fest und erklärt damit auch den Anlaß für sein aufwendiges Kunstprojekt, an dem er in den letzten Jahren gearbeitet hat. Innerhalb von 21 Monaten hat er die farbliche Veränderung des Stadtbildes von fast ganz Friedrichshain dokumentiert, archiviert und auf gemalten Stadtplänen festgehalten. Anstelle eines braun-grauen Kiezes, wie er ihn noch vor drei Jahren vorgefunden hatte, als er in ein besetztes Haus in der Liebigstraße gezogen war, läuft er nun bei seinen Spaziergängen durch Straßen in investoren- und mieterfreundlichen Gelbtönen.

Mindestens einmal wöchentlich geht er in Friedrichshain jede Straße ab, um die Veränderungen zu dokumentieren. Dabei hilft ihm, daß er vor seinem Kunststudium in der elsässischen Stadt Mulhouse eine Malerlehre absolviert hat. Denn die Maler haben einen Farbkatalog mit tausenden von Farbtönen und können so die Farbwerte durch Vergleichen genau bestimmen und notieren.

„Ich habe eine Liste der meist benutzten neuen Fassadenfarben angefertigt. Die ersten vier Plätze werden von Gelbschattierungen belegt, es folgt Weiß, dann kommen wieder Gelb-Ockertöne", beschreibt er die nicht nur für Friedrichshain typischen Farbtöne der frisch sanierten Häuser, „vielleicht liegt das an den seltsamen Vorschriften in Deutschland." Und die sind für einen Franzosen doch sehr befremdlich. Denn hier muß man sich, anders als in Frankreich, die Fassadenfarbe genehmigen lassen. Dies soll zu einem einheitlichen Stadtbild führen. Tatsächlich aber wird dadurch nur Eintönigkeit erzeugt. Mit den Sanierungen der Fassaden verliert zudem das jeweilige Haus seine historische Authentizität. Ganzen Stadtteilen werden so die Spuren früherer Nutzer genommen.

Daß die Fassadengestaltung aber auch ein Symbol für die soziale Veränderung eines Stadtteils sein kann, ist gerade ihm bewußt. Er lebt in einem besetzten Haus mit vielen anderen Künstlern. So hat er eine kostenlose Unterkunft und damit die Voraussetzung für ein Arbeiten ohne kommerziellen Druck. Jedes sanierte Haus bedeutet die Zerstörung von billigem Wohnraum und Freiraum für Lebenskonzepte, die nicht der Norm entsprechen.

Aber nicht nur die Veränderung in seinem Friedrichshainer Kiez interessieren den 30jährigen, sondern auch der Umgang der Berliner mit den Spuren der Mauer. Oder besser gesagt: den nicht sichtbaren Resten der Mauer. Denn für den „antiimperialistischen Schutzwall" ließ die DDR-Regierung großräumig Wohn- und Gewerbeflächen abreißen. Heute sind diese Flächen zum großen Teil noch immer Brachflächen. Es sind politisch-historische Lücken im Stadtbild. Husser hat nun Modelle der Stadtteile entlang der ehemaligen Mauer gebaut, in denen er die Volumina umkehrte. Bebaute Flächen blieben leer, Brachflächen und Straßenräume entlang des ehemaligen Grenzstreifens hob er durch Stege hervor. Erst durch seine Arbeiten werden einem diese historisch bedingten Freiflächen wieder bewußt, nachdem man sich inzwischen an sie gewöhnt hat. Man schaut sich bei Spaziergängen durch die Stadt diese wieder einmal genauer an. Matthieu Husser interessierte der ehemalige Mauerstreifen besonders deshalb, weil er im Stadtbild und bei der Stadtplanung oft eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Bei Gesprächen mit seinen deutschen Freunden und Bekannten hat er aber immer wieder festgestellt, daß die Mauer und die daraus resultierenden biographischen Unterschiede bei den Menschen in Deutschland eine dominierende Rolle einnehmen.

Husser gelingt mit seinen Objekten, Plänen und Karten das, was in dieser Stadt so oft und lange vermißt wurde: eine bildliche Darstellungsform für historische und soziale Wandlungen, die durch Architektur ausgelöst wird.

Spunk Seipel

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