Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Berlin 1902/03

19. Dezember bis 5. Januar

Für Aufsehen sorgt der Raubmord an der verwitweten Auguste Budwig aus der Rosenthaler Straße 16-17. Am Rand des viereckigen Tisches, unter dem die Leiche der Ermordeten liegt, findet sich ein von Frau Budwig begonnener Brief an eine Verwandte in Lodsch. Er ist mit blauer Tinte sehr sauber und mit einer für das Alter der Frau erstaunlich sicheren Handschrift geschrieben:

„Berlin, d. 14.12.1902.

Meine theure Nichte Regina! Dein Brief wurde durch Anastasia mir zugeschickt und bedaure, Deine so schreckliche Lage daraus zu ersehen. Heute habe ich das Glück, Deinen Cousin bei mir zu haben, und Herr Abraham Weber kennt Dich und macht Dir die Freude, Dir einige Zeilen zu senden."

Etwa eine Handbreit unter der letzten Briefzeile befindet sich ein nicht allzu großer, nach allen Seiten ausgespritzter Klecks. Die Schreiberin hat augenscheinlich, als sie gerade das Wort „senden" geschrieben hatte, den tödlichen Schlag erhalten und an der Stelle des Kleckses noch einmal mit der Feder auf das Papier aufgeschlagen.

Criminal-Inspector Braun schließt aus dem Inhalt des Schreibens, daß der Verwandte „Abraham Weber" bei Abfassung des Schreibens zugegen gewesen sein müsse. Die Beamten finden auf einem Fensterbrett einen Zettel, der ebenfalls mit blauer Tinte von der Ermordeten geschrieben war: „Herrn Abraham Weber bei Jakobsohn, Linienstraße 21. Isaak Weber, Weideschappel 31." Mit letzterer Adresse ist augenscheinlich Whitechapel, der durch viele Frauenmorde bekannte Stadtteil Londons gemeint. Inspector Braun fährt schleunigst zur Gastwirtschaft Jacobsohn, bei dem besonders aus dem Ausland kommende, mittellose Juden einzukehren pflegen.

Herrn Jacobsohn, dem Besitzer der Gastwirtschaft in der Linienstraße 21, hatte ein Verdächtiger angegeben, er wäre direkt aus Paris gekommen, nachdem er in Ostende als Kellner gearbeitet habe, anderen sagte er dagegen, er komme aus London. Schnell gerät der Neffe der Ermordeten, der am 10. Januar 1875 zu Konin in Russisch-Polen geborene Adolf Leszczynski, in Verdacht, der bei seinem kurzen Aufenthalt auch unter dem Namen Abraham Weber aufgetreten ist. Er ist mittelgroß, circa 1,66 Meter groß, hat schwarzes krauses Haar, dunkle Augen, große, stark gebogene Nase, glatt rasiertes Gesicht und ist bei untersetzter Figur breitschultrig. An der rechten Stirnseite hat er eine Kratzwunde.

Das von Leszczynski benutzte Mordinstrument ist eine Schraube, die augenscheinlich zu einem großen Schraubstock gehörte, aus dem sie erst in allerneuester Zeit herausgenommen ist, denn in dem Gewindegang befindet sich noch frische Schmiere. Es ist wichtig festzustellen, wo Leszczynski sie gekauft oder gestohlen hat. An dem einen Ende trägt die Schraube einen Kopf, mit dem der Schädel der Ermordeten zertrümmert wurde. Die Schraube selbst war noch mit Blut befleckt, obwohl Leszczynski sich nach der Tat in dem an einem Schrank hängenden Handtuch seine blutigen Hände und das Instrument abgewischt hat. Dabei ist auch ein Teil der Schmiere an dem Tuch kleben geblieben. Die Schraube ist 28 cm lang und drei Pfund schwer.

Bei der Obduktion der Leiche ergibt sich, daß der Mörder die alte Frau wiederholt auf den Kopf geschlagen und ihr außer dem Schädel auch das Nasenbein zertrümmert hat. Der Schädelbruch führte zu einer Verletzung des Gehirns, die den Tod zur Folge hatte.

Leszczynski holte seine Invalidenkarte, auf die er Uhr und Kette versetzt hatte, von dem Pfandleiher in Ostrowo nicht wieder ab. Da die russische Grenze scharf bewacht wird, war nicht anzunehmen, daß der Verfolgte sie überschritten hatte, es wurde vielmehr vermutet, daß er sich noch in der Umgebung von Ostrowo aufhalten würde.

Verhaftet wird er am 21. Dezember in Kalisch, auf russisch-polnischem Boden. Die hiesige Criminalpolizei ersucht die dortigen Behörden, den Verhafteten photographieren zu lassen und die Bilder hierher zu senden, damit sie denjenigen vorgelegt werden sollen, mit denen Leszczynski in Berlin in Berührung gekommen ist.

Falko Hennig

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 11 - 2002