Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Deutsche Aufklärung und Kopftuch

Drei Generationen von Einwanderern

Der deutsche Staat hat ein Problem mit seinen Immigranten. Das Problem besteht darin, daß sie sich weigern, sich zu integrieren, d.h. deutsche Normen, Werte und Sprache, kurz, die deutsche Kultur anzunehmen. Es wird ihnen vorgeworfen, sie würden sich von der deutschen Gesellschaft abschotten und in einem abgeschotteten Raum eine ganz eigene Lebensform praktizieren. Weil dieses Problem selbstverschuldet ist, spricht der Staat gern von einem Immigrantenproblem.

Seit mehr als 30 Jahren sind Immigranten in Deutschland einer strukturellen Ausländerfeindlichkeit ausgesetzt. Ihr Alltag in der deutschen Gesellschaft ist bestimmt durch Ausgrenzung, Diskriminierung und offene Feindschaft. Es fängt bei der Ausländerbehörde an und hört beim Busfahrer auf. Tagtäglich wagt es der Mob, Ausländer auf offener Straße zu jagen. Wenn man aus den sozialen Räumen einer Gesellschaft ausgestoßen wird, dann schafft man sich seine eigenen Räume, wo man als Gleicher unter Gleichen behandelt wird.

Ich gehöre dem aramäischen Volk an, das auf keiner Landkarte mehr existiert und normalerweise nur in biblischem Zusammenhang Erwähnung findet. Aus dem südöstlichen Anatolien sind von 1960 bis zum Anwerbestop 1973 viele Aramäer als Gastarbeiter angeworben worden, darunter auch meine Mutter. Ausgegrenzt und vereinsamt fristeten die meisten von ihnen in Deutschland ein tristes Dasein. Der einzige Trost, den sie hatten, war der Gedanke an ihre Rückkehr in die „Heimat".

Da es zu keiner Rückkehr kommen konnte, die Ausgrenzung aber anhielt, schuf man sich eine eigene, völlig selbständige Gemeinschaft mit Sitz in der kurpfälzischen Kleinstadt Leimen, wo sich schon früh ein größerer Kreis von Verwandten und Bekannten zusammengefunden hatte. Aus ganz Deutschland, ja sogar aus anderen europäischen Staaten, zogen die Aramäer dorthin, um ihr gesamtes Vermögen aus jahrelangem Frondienst in Eigentumswohnungen zu stecken.

Heute gibt es in Leimen einen Stadtteil, wo weit und breit kein einziger Deutscher zu sehen ist. Während meines letzten Besuchs bei meinen Eltern durfte ich den Neubausilo bewundern. Hier lebt man wieder, soweit es geht, nach altaramäischen, traditionellen Mustern. Für den Inländer hat diese Lebensform den Anschein, als hielten die Ausländer stur an ihren angestammten Identitäten fest, als nutzten sie alle Vorteile, die sich ihnen in diesem Land bieten, ohne je bereit zu sein, sich mit ihm zu identifizieren. Aber nicht Traditionspflege oder gar der Luxus der Nostalgie, sondern allein die Notwendigkeit, auf die Herausforderungen ihres Schicksals zu reagieren, bestimmen ihr Verhalten.

Auf die Lebensqualität der Aramäer wirkt sich diese Lebensform nicht unbedingt negativ aus. Die Kinder und Jugendlichen, die fast gar nicht mehr mit der deutschen Sprache in Berührung kommen, landen eben doch nicht zwangsläufig bei ihren Verwandten im Kleingewerbe, sondern machen oft genug Karriere.

Wie geht das? Es ist eine neue Generation, die dieses neuartige Leben führt. Noch die heute 25 bis 40jährigen standen vor einer schwierigen gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Aufgabe, indem sie in der Familie als Mittler zwischen den Kulturen fungieren mußten. Meine Generation diente ihren Eltern als Anwalt und Sprachrohr. Während sie sich also zwangsweise der deutschen Kultur anverwandelte, diese Annäherung aber mit dem Verlust der eigenen Kultur bezahlte, hält es die nachfolgende Generation nicht mehr für nötig, sich um kulturellen Austausch und Annäherung an die deutsche Gesellschaft zu kümmern. Vielmehr führt sie ein Doppelleben: Innerhalb der Familie führt sie ihr kulturelles, außerhalb ihr soziales Leben ­ und kommt mit diesem Widerspruch offenbar ohne größere Probleme zurecht.

Für meine Generation hieß es: Um studieren zu können, muß man sich die deutsche Kultur aneignen. Ohne beispielsweise die Vertreter der deutschen Aufklärung gelesen und verstanden zu haben, hielt man ein Leben auf der Hochschule für nahezu unmöglich. Mit der deutschen Aufklärung im Kopf war es freilich kaum mehr möglich, nach den eigenen traditionellen Mustern zu leben und etwa die untergeordnete Rolle der Frau zu akzeptieren. Dieser Wechsel der Kultur hatte seinen Preis im Identitätsverlust.

Die nachfolgende Generation muß diesen Preis nicht mehr zahlen. Sie erlangt denselben Studentenstatus und schickt sich an, Karriere zu machen, ohne daß auch nur das Kopftuch rutscht. Die Phase des kulturellen Austauschs ist vorbei. Weder brauchen sie sich für ihren Aufstieg mit der deutschen Geistesgeschichte zu quälen, noch sich mit den konkreten Umgangsformen der deutschen Gesellschaft zu plagen. Je mehr sie an den gesellschaftlichen Rechten, Gütern und Verkehrsformen partizipieren, je stärker sie sich also in dieser Gesellschaft einnisten, desto enger rükken sie kulturell zusammen und bilden Subsysteme. Während die soziale Anpassung ihren Lauf nimmt, ist die kulturelle Anpassung völlig ausgeblieben.

So kommt es, daß ich auf der Universität meine ausländischen Kommilitonen neuerdings mit dem Tuch auf und dem Koran im Kopf bestaunen und mich darüber wundern darf, wie sie sich in der akademischen Sphäre der Universität besser zurechtfinden und mehr zu Hause fühlen, als ich es je könnte. Den sozialen Umgang mit den deutschen Gegebenheiten haben sie verstanden, den kulturellen dafür aufgegeben. Ungebrochen in ihrer traditionellen Lebenseinstellung schreiten sie in den Seminarsälen selbstbewußt an mir vorbei.

Fuad Can

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