Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Jeder Gang macht schlank!

Mein Vater packt mich, drückt mir die Arme hinterm Rücken zusammen, meine Mutter kommt und stülpt mir einen unbeschrifteten Umweltbeutel über den Kopf. Ich bin dreiunddreißig Jahre und vier Monate alt, bis zum Sommer arbeitete ich für eine bekannte, überregionale Tageszeitung oder das Fernsehen – ein Mitglied der Kirch-Gruppe – oder eine Werbefirma oder Pixelpark. Ich sang: Wir sind die neue Generation, a new ge-neration, wir wollen alles, und wir stoßen euch vom Thron, a big transformation! Ich kriege keine Luft mehr, versuche zu schreien, hilfe! Mein Vater reißt mich zu Boden, meine Mutter schnappt sich meine Beine, ich werde über die Straße getragen. Die Babyklappe öffnet sich wie von Geisterhand, sie zwängen meinen Kopf in den dunklen, engen Kasten, ich bin zu groß, viel zu groß, wehre mich, zapple und strample wie ein Kleinkind. Vergeblich! Die Menschen wenden ihre Blicke ab, gucken weg, auf die Erde, in die Schaufenster oder verbergen ihre Gesichter hinter Illustrierten und riesigen Milchkaffeeschalen. Meine Eltern lachen, hähä, ich habe Angst, ich verschwinde, ich will raus!

Raus aus Berlin, Mitte, dem Lummerland. Es zischt und pufft, riecht nach Aufruhr, Aufstand, Anarchie. An jeder Häuserecke, in jeder Dönerbude. Baring baut Barrikaden, die Westerwelles und Merzens zeigen Zähne. Licht aus, Messer raus, drei Mann zum Blutzapfen! Gerhardt singt: Wir zahlen uns´re Steuern nicht, nein, uns´re Steuern zahlen wir nicht!

Ich klettere ins Fliewatüüt, klick, klick! Kein Weg ist mir zu weit, kein Wasser zu tief und kein Berg zu hoch. Guten Flug! Ab ins Reich der „Dreizehn alten Orte". Heidi, Käse, Schokolade. Kurzer Blick: Bei Denner kosten diese Woche drei Dosen ROCO-Ravioli (850 g) nur die Hälfte, fünf Franken neunzig statt elffünfundachtzig, also zugeschlagen! Die Tage werden kühler, unsere Preise bleiben heiß! Billig! Günstiger Tarif! Wir besorgens dir ­ garantiert o.f.I. Knall mich! Ha scho mis Hösli abzoge! Bilaterale Erziehung: Ein lila Puff statt grüner Auen, nein, das kann ich auch zuhause haben. Also fort. Adieu, ihr Eidgenossen!

Über den Magnetberg ins heilige k.u.k.-Land. Landung im Wiener Zauberwald, Leckerland, das Schnitzelparadies. Mein Gott, wie schön, wie alt, wie früher. Gutes von gestern. Bestes von heute, die Uhren laufen rückwärts. Ich speise wie meine Großeltern, fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Hendl und Pommes, heissa! Die Rechnung kommt, ich schlucke.

Dann ins fröhliche Wohnzimmer. Die Welt teilt sich in Avantgardisten und Realisten, wir trinken und rauchen und singen. So heiter ist die Zeit! Der Tod kreuzt schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir trinken. Wir sehen ihn nicht, wir sehen nicht seine Hände.

Ich besuche den Prater, die Märchenwelt, alles Playmobil. Riesenräder, Holzachterbahnen, blinkende Lichter, arabische Nächte. Ich werde naßgespritzt ­ und freu mich! Weiter ins Burgtheater: Glaube und Heimat von Karl Schönherr, der Himmel weint. Gestern die Disco, heute die Staatsoper mit Steuerkarte und dann runter in die Kaisergruft in der Kapuzinerkirche. Ein Abt will meine letzten Euro. Jetzt bleibt mir nur noch der Bukowski-Dollar.

Der Traum ist aus, ich steige in das Fliewatüüt, die Rotoren drehen sich, ich hebe ab, Prüfung bestanden.

Eine Stunde später lande ich auf dem Pariser Platz. Die Touristen stürzen sich auf mein Vehikel und demontieren es in Sekundenschnelle, wuppdich! Ein Freund sieht mich, umarmt mich und erzählt, daß er sich zum Nikolaustag einen DVD-Player geschenkt hat. Er frohlockt und singt: Ich hab´ die ganze Welt geseh´n, im Fernsehen und auf Fotografien.

Wir steigen in die U-Bahn, fahren heim, downtown. Ich denke an die Worte eines berühmten Mannes: Nichts ist stärker als die Sehnsucht nach einer großen Stadt.

Von wem stammt das Zitat?

Marc Degens

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 11 - 2002