Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Nichts geht mehr

Die zeitgenössische bildende Kunst, so scheint es zumindest, ist heute politischer denn je. Die Documenta wurde als eine politische Manifestation wahrgenommen; manche Kommentatoren empfanden sie gar als gegen Amerika gerichtet. Kunst, die sich irgendwie globalisierungskritisch gibt, steht hoch im Kurs. So konnte man sich in Kassel ausführlich über den Palästinenserkonflikt informieren oder über die Lage des maritimen Proletariats. Auch in Berlin wird diese Art von Kunst, photographisch-dokumentarische Annäherungen zumeist, gerne gezeigt, etwa in den KunstWerken. Allein, die Probleme, derer sich die Polit-Künstler heute annehmen, sind meist weit weg, müssen es wohl auch sein, damit sie sich ohne allzu große Irritation konsumieren lassen und dem aufgeklärt-liberalen Bildungsbürger und Kunstinteressierten das Gefühl vermitteln, dank dieser Kunst weiter zu blicken und kritischer zu sein als seine Zeitgenossen.

Gleichzeitig wird die historische Avantgarde mit ihren oppositionellen, weltverändernden Visionen angeschwärzt. Ein Bazon Brock entblödet sich nicht, zu behaupten, die Avantgardisten hätten mit ihren intoleranten, bilderstürmerischen Ansichten den Nazis die Argumente geliefert, mit denen sie dann als „entartete Kunst" ausgemerzt werden sollten; Jean Clair stellte nach dem 11. September polemisch Zusammenhänge zwischen programmatischen Texten der Surrealisten und den gegen die „westliche Zivilisation" gerichteten Attentaten her, während die große Düsseldorfer Surrealismus-Ausstellung einfach schöne Bilder zeigen wollte und die surrealistischen Manifeste und politischen Manifestationen zum Beiwerk degradierte.

Selten war der politische Anspruch der auf den maßgeblichen Ausstellungen und Biennalen gezeigten Kunst politischer, selten war sie freilich harmloser ­ während es in der Literatur und der Musik der den 68ern nachfolgenden Generationen einen solchen Anspruch gleich gar nicht mehr gibt. Woran liegt das? Alles, was im 20. Jahrhundert, von den klassischen Avantgarden über die Neoavantgarden der Nachkriegszeit, subversive Strategie war, ist vom Betrieb mittlerweile restlos neutralisiert. Nichts geht mehr. Heute kann es sich ein großes Versicherungsunternehmen in Wien leisten, in der von ihm finanzierten Generali Foundation die avancierteste institutionskritische Kunst zu zeigen und muß nicht einmal mehr davor zurückschrecken, dort die eigene Firmengeschichte auseinandernehmen zu lassen. Der Imagegewinn ist garantiert, die Folgenlosigkeit auch.

Andererseits sind die Räume und Institutionen der Kunst häufig die letzten Orte, an denen politische Themen überhaupt noch verhandelt werden können, wo radikal gefragt werden darf, wo diese kapitalistische Gesellschaft grundlegend angegriffen werden darf. Die engagierte Neue Gesellschaft für bildende Kunst in Kreuzberg ist ein Beispiel dafür. Es bedurfte etwa dieses schützenden Kunstkontextes, um ein Projekt wie die „evolutionären zellen" auf den Weg zu bringen, das von seiner Konzeption her eigentlich gar kein „Kunstereignis" hätte sein wollen (s. scheinschlag 10/02). Besser als nichts? Eine neue Bescheidenheit nach dem Ende der grossen Visionen?

Die Kunst & Politik-Reihe, die in diesem Jahr im scheinschlag eine Reihe von Gesprächen und Stellungnahmen versammelte, hat immerhin gezeigt, daß es jenseits der harmlos-modischen Globalisierungskunst noch Einzelkämpfer gibt, die sich nicht alle Visionen haben ausreden lassen: den Anarchisten Bert Papenfuß, der sich als Kneipier den Rücken freihält, um jenseits des Literaturbetriebs agieren und publizieren zu können; die Filmemacherin Hito Steyerl, die mit ihren Filmen politische Aktivisten und Kenner des Experimentalfilms gleichermaßen erreicht; den Komponisten Clemens Nachtmann, der an die politische Brisanz formal-avancierter Musik glaubt und vor der Kulturindustrie nicht unkritisch kapituliert; oder Urs Jaeggi, der meinte: „Wir sind im guten Fall Querschießer. Die wichtigen Impulse kamen immer von Randgruppen und Einzelgängern." Um mit der radikalen Schriftstellerin Ilse Aichinger zu schließen: „was auch in schlimmen Fällen getan werden kann: nicht mitmachen!"

Peter Stirner

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