Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Kunst und Arbeitsteilung

Kunst&Politik (IX): Ein Zwischenruf aus dem Jahr 1846

Raffael, so gut wie jeder andre Künstler war bedingt durch die technischen Fortschritte der Kunst, die vor ihm gemacht waren, durch die Organisation der Gesellschaft und die Teilung der Arbeit in seiner Lokalität, und endlich durch die Teilung der Arbeit in allen Ländern, mit denen seine Lokalität in Verkehr stand. Ob ein Individuum wie Raffael sein Talent entwickelt, hängt ganz von der Nachfrage ab, die wieder von der Teilung der Arbeit und den daraus hervorgegangenen Bildungsverhältnissen der Menschen abhängt.

Stirner* steht hier noch weit unter der Bourgeoisie, indem er die Einzigkeit der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit proklamiert. Man hat es bereits jetzt für nötig befunden, diese „einzige" Tätigkeit zu organisieren. Horace Vernet hätte nicht Zeit für den zehnten Teil seiner Gemälde gehabt, wenn er sie für die Arbeiten angesehen hätte, „die nur dieser Einzige zu vollbringen vermag". Die große Nachfrage nach Vaudevilles und Romanen in Paris hat eine Organisation der Arbeit zur Produktion dieser Artikel hervorgerufen, die noch immer Besseres leistet, als ihre „einzigen" Konkurrenten in Deutschland. In der Astronomie haben es Leute wie Arago, Herschel, Enke und Bessel für nötig gefunden, sich zu gemeinsamen Beobachtungen zu organisieren, und sind erst seitdem zu einigen erträglichen Resultaten gekommen. In der Geschichtsschreibung ist es für den „Einzigen" absolut unmöglich, etwas zu leisten, und die Franzosen haben auch hier längst durch die Organisation der Arbeit allen andern Nationen den Rang abgelaufen. Es versteht sich übrigens, daß alle diese auf der modernen Teilung der Arbeit beruhenden Organisationen immer noch zu höchst beschränkten Resultaten führen und nur gegenüber der bisherigen bornierten Vereinzelung ein Fortschritt sind.

Die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende Unterdrückung in der großen Masse ist Folge der Teilung der Arbeit. Wenn selbst in gewissen gesellschaftlichen Verhältnissen Jeder ein ausgezeichneter Maler wäre, so schlösse dies noch gar nicht aus, daß Jeder auch ein origineller Maler wäre, so daß auch hier der Unterschied zwischen „menschlicher" und „einziger" Arbeit in bloßen Unsinn sich verläuft. Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums unter diese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer usw. ist, und schon der Name die Borniertheit seiner geschäftlichen Entwicklung und seine Abhängigkeit von der Teilung der Arbeit hinlänglich ausdrückt. In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen.

Karl Marx

* Max Stirner (1806-1856), deutscher Philosoph, Hauptwerk: Der Einzige und sein Eigentum (1845)

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