Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1902

24. Oktober bis 20. November

Woher Berlin seine Forellen bezieht, wird gelegentlich der Exkursion der „Brandenburgia" lebhaft besprochen. Unter Führung des ersten Vorsitzenden, des Geh. Reg.-Raths Friedel, besuchten die Mitglieder die alte Festung Treuenbrietzen, die reich an ehrwürdigen Bauwerken aller Art ist: Kirchen, Rathaus, Stadtmauer, Burgwall. Letzterer stammt aus der Wendenzeit; im Mittelalter wurde hier die Burg Brietzen erbaut, aus deren Resten, nach der Zerstörung, wiederum die alte Marien- und Nikolaikirche erstanden. Der Ausflug führt auch durch das Forellen-Gebiet: Die Niepitz, welche den Kreis Zauch-Belzig und auch die Stadt Treuenbrietzen durchfließt, enthält einen großen Fischreichtum und besonders viele Forellen, die meist über Potsdam ihren Weg in die Küchen der Berliner Gourmands nehmen. Die weit verbreitete Ansicht, die in Berlin servierten Forellen stammten aus Fischzüchtereien, ist irrig. Den Beinamen „Die Treuen" erhielten Burg und Stadt Brietzen zur Zeit des falschen Waldemar, weil sie dem Markgrafen Ludwig dem Römer die Treue bewahrten. Die alte Burg Brietzen gehört jetzt dem Postrath Steinhardt, der sich hier eine hübsche Villa nebst großen Gärten hat anlegen lassen. Auf dem sehr fruchtbaren Boden gedeihen Obst und Wein prächtig.

Eine Abschiedsfeier zu Ehren von Frau White, der Gattin des aus Berlin scheidenden amerikanischen Botschafters, veranstaltet der American Women's Club seiner langjährigen Präsidentin am 1. November in seinen Räumen in der Kleistsraße 11. Der Feier wohnen außer Mitgliedern des Clubs die diplomatischen Vertreter der Vereinigten Staaten und zahlreiche andere Angehörige der amerikanischen Kolonie bei. Frau White erhält zum Schluß eine künstlerisch ausgeführte Adresse, deren Vignette in Wasserfarben gemalte Szenen aus dem Tiergarten, das Denkmal der Königin Luise und die Rousseau-Insel darstellt. Der Einband besteht aus weißem Leder mit schweren Silberbeschlägen.

Neue, kunstvoll ausgestattete Wagen werden bei der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn eingeführt. Sie unterscheiden sich von den bisherigen durch die von Professor Grenander, Lehrer an der Königlichen Kunstgewerbeschule, künstlerisch durchgebildeten Teile. Die Messingstangen, durch welche die Sitzbänke abgeteilt werden, sind nicht gerade, sondern stilisiert, und die Seitenlehnen passen sich an. Die Lichtöffnungen sind mit Milchglas abgeschlossen, das mit Pflanzenmotiven ornamentiert ist.

Eine städtische Armen-Commission hat ihre Demission angeboten, weil die Commission 13 Mitglieder umfaßt, die alle an dieser ominösen Zahl Anstoß nehmen.

Über die Schantung-Eisenbahn- und Schantung-Bergbau-Gesellschaft hält am 4. November der Wirkliche Gehei-me Rath Dr. Fischer, praktischerweise gleich Präsident der genannten Gesellschaften, in der Deutschen Kolonialgesellschaft, Abteilung Berlin-Charlottenburg, einen Vortrag. Nach einem kurzen Rückblick auf die geographische Lage der Provinz Schantung gibt der Vortragende eine lebendige Schilderung seiner Reise, die mit seinem Sohn unter Führung des Baurates Hildebrandt und Assistenz des chinesischen Sekretärs von der Eisenbahngesellschaft, sowie eines chinesischen Dolmetschers stattfand. Die neugierigen Chinesen würden die Reisenden überall umgeben, erwiesen sich aber niemals als zudringlich oder feindselig. Auch gegen die Eisenbahn hege man in Schantung keine feindseligen Gefühle, da die Bewohner schon gesehen haben, daß durch sie neuer Verdienst ins Land gekommen sei und die Produkte besser und billiger befördert werden können. Die ungefähr 30 Millionen Einwohner der Provinz Schantung sind fast ausschließlich auf Ackerbau angewiesen, können aber ihre Früchte nicht genügend verwerten, da die Wege grundlos und die Kanäle versandet seien. Heute würden mit der Eisenbahn täglich 700 Menschen, meist Chinesen, befördert.

Im Wintergarten stellen sich die neuen Spezialitäten vor. Internationale Soubretten und Tänzerinnen, Excentrics, Pariser Ministrels, die spanische Diva Gunorero, der Meisterjongleur Kara und zum Schluß eine Reihe vorzüglicher und neuer Biograph-Aufnahmen.

Falko Hennig

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