Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Stadt lesen und weiterschreiben

Das Sechs-Punkte-Papier der Architektengruppe L21

1. Aufklärung jetzt

Die Architekten der deutschen Einheit haben den Ostflügel des Landes seiner wirtschaftlichen Fundamente beraubt und ein Land in Schieflage hinterlassen. Die hohe Arbeitslosenzahl und der Leerstand von einer Million Wohnungen in Ostdeutschland zeichnen das Gesicht der Gesellschaft. Aber auch in Gesamtdeutschland werden immer weniger und immer ältere Menschen leben, und sie werden immer weniger zu tun haben. Wir müssen lernen, damit umzugehen!

2. Stadt lesen

Städte sind kulturelle Zeugnisse ihrer Bewohner. In ihnen spiegeln sich Reichtum und Engagement der Einwohner, ihre Vorstellungen von Schönheit und von Werten und die Eigentums- und Besitzverhältnisse innerhalb der Stadt wieder. Vergangene und gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle lassen sich in Gestalt von Stadt anschauen, begehen und begreifen. Man muß nur hinsehen. Sie sind lesbar!

3. Komplexer denken

Gesellschaft und Stadt sind eng miteinander verflochten. Ihre Entwicklung muß im Zusammenhang und bundesweit diskutiert werden. Wie soll sich unsere Gesellschaft im vereinten Europa entwickeln? Welche Rolle soll Ostdeutschland dabei übernehmen? Orientieren wir uns ausschließlich an unserer eigenen Stadt oder auch an der Region? Wenn wir nach der Stadt suchen, in der wir gut leben können – was bedeutet für uns „gutes Leben"? Welcher Wert steht uns höher – die freie Entwicklung des Einzelnen oder die starke Gemeinschaft?

4. Weniger, und das mit aller Kraft

Manches gibt es weniger: Einwohner, Arbeit, junge Leute. Anderes gibt es plötzlich im Überfluß: Flächen, Räume, Wohnungen. Also muß in den Köpfen, in der Stadt und der Gesellschaft umgebaut werden. Aber wie baut man eine Stadt weiter, in der sich sämtliche Eckdaten geändert haben? Es gibt eine Entwicklung ohne Wachstum: eine Entwicklung, die nicht auf Quantität setzt, sondern auf eine neue, andere Qualität. Es gibt bereits Modelle, die mit dem „Weniger" arbeiten: neue Beschäftigungsmodelle, andere Energieformen, das Einfamilienhaus inmitten einer grünen Stadt ...

5. Neue Spuren in der Stadt legen

Die europäische Stadt trägt viele Spuren, nicht nur die der Gründerzeit. Häuser und Stadträume erzählen die verschiedensten Geschichten, auch von der fortwährenden Neugier auf ein Weitermachen, auf ein Umbauen, auf ein Anpassen der Stadt an die Bedürfnisse der Leute. Doch das immergültige Umbaurezept gibt es nicht. Es gilt, die wichtigen Spuren zu sichern – und weiterzudenken. Das heißt zum Beispiel, daß man die Stadt kompakt hält, stabil in ihren Grenzen und gleichzeitig den Überfluß an Flächen im Innern der Städte nutzt. Um Baumschulen anzulegen oder Gemüseplantagen oder um die Einkaufszentren wieder in die Stadt zu holen. Es müssen neue Spuren gelegt werden!

6. Neue Wege braucht das Land

Es gibt viele Steuerungsmöglichkeiten, die diskutiert werden müssen: die Neubewertung von Grundstücken und Immobilien, die Gewährung der Eigenheimzulage nur noch an bestimmten innerstädtischen Orten, die Einschränkung der Pendlerpauschalen, der Stop für Ausweisungen von Bauland im Speckgürtel der Städte ... Eigentum als Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft. Entzug des Baurechts für Grundstücke, deren Besitzer nach einer angemessenen Zeitspanne keine plausible Nutzung ihres Besitzes nachweisen können. Gewährung von Abbruchfördermitteln nur, wenn der Besitzer sich zur Aufwertung seines brachliegenden Grundstücks verpflichtet, wenn er auf seiner Parzelle beispielsweise ein Stück Wald pflanzt oder einen Spielplatz anlegt. Welches Mittel wo und wie eingesetzt wird, muß jede Stadt und Region selbst aushandeln und entscheiden.

L21 ist ein Kollektiv aus fünf Leipziger Architekturbüros, das sich angesichts der Krise der Städte in den neuen Bundesländern provokativen und politischen Strategien zuwendet.

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