Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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The party is over

Der Bühnenbildner Bert Neumann hat in seinem gigantischen Sandkasten Volksbühne eine Stadt gebaut, in der es sich leben ließe, falls jemand den Tante-Emma-Laden übernimmt und wieder öffnet. Es gibt sogar ein Kino und ein Hotel, das „Romantic" heißt und der Bauarbeiterunterkunft gleicht, die ein Baukonzern in der Burgstraße am Ufer der Spree errichtet hat. Im Hotel sitzen die Zuschauer zusammengepfercht und sind Voyeure, die, während das Hotel sich dreht, versuchen, einen Blick in die gegenüberliegenden Häuser zu erhaschen. Meistens sind die Vorhänge geschlossen, werden Rollos heruntergelassen oder Lamellenjalousien zugeschnappt, als müsse Castorf beständig auf seine Herkunft hinweisen. Hier wird Wirklichkeit imitiert und das Unsichtbare per Kamera ins Hotelzimmer übertragen. Der Dostojewskijsche Idiot nimmt seinen tragischen Lauf.

In der fünften Stunde, kurz vor Mitternacht, wünschte ich mir, die Wand nach Osten würde sich öffnen und den Blick auf die Fenster des Karl-Liebknecht-Hauses freigeben, um der PDS bei ihrer Selbstauslöschung zuzusehen. Mich interessierte, ob da jemand auf- und ablief. Oder an die Wand starrte. Oder seinen Schreibtisch ausräumte. Oder seinen Schreibtisch einräumte. Sich stritt. Sich in den Armen lag. Vielleicht hockte in der zweiten Etage die Parteichefin, auf dem Höhepunkt ihrer Macht so blaß wie die Wände, und führte Selbstgespräche. Oder hielt Zwiegespräche mit dem Thälmanngemälde von Womacka unter dem Dach, wo einst Max Hoelz residierte. Im Karl-Liebknecht-Haus gibt es keine Jalousien wie in der Kulisse der Neustadt. Zwischen den Fenstern der Volksbühne und denen des Karl-Liebknecht-Hauses stehen die Bäume, die die Nazis nach ihrem Triumph 1933 gepflanzt haben ­ für jeden toten SA-Mann einen. Jetzt, wo die Bäume ihre Blätter verloren haben, ist der Blick frei.

Zwei Tage zuvor, die Pollesch-Schauspielerinnen hatten sich auf der Treppe der Neustadt gerade die Globalisierung mit Russenkoffern um die Ohren gehauen, war ich nach der Vorstellung am Karl-Liebknecht-Haus entlanggegangen. Der Parteitag in Gera war gerade vorbei, das Land hatte sich gegen die Stadt durchgesetzt, die Reformer, deren Ort das Karl-Liebknecht-Haus gewesen war, waren entmachtet.

An diesem Abend stand ein offener Lieferwagen vor dem Haus und es sah aus, als wolle jemand ausziehen, bevor die neuen Besen kommen, um das Haus zu säubern.

Aus einem Fenster der ersten Etage hing ein Transparent mit dem Satz: „Das Leben ist Deine Party". War mit Party das Fest oder die Partei gemeint? „The party is over", wäre die passende Entgegnung gewesen.

Gegen die Geschichte des Karl-Liebknecht-Hauses ist Dostojewski ein lächerlicher Komiker. Als Ernst Thälmann mit seinem Zentralkomitee vor 76 Jahren in das Haus zog, das eine Gönnerin der Partei schenkte, hatte er gerade erfolgreich mit Hilfe Stalins die Macht in der KPD übernommen. Der Kronprinz hatte sich mit seinem Antrag durchgesetzt, Ruth Fischer und Arkadij Maslow wegen fortgesetzter fraktioneller Tätigkeit und gegen den Willen der Berlin-Brandenburgischen KPD aus der Partei auszuschließen. Fischer war noch bis 1928 Reichstagsabgeordnete. Die Wege der Intrigen waren mit dem Umzug in dieses Haus kürzer als zuvor. Es ist bis heute so verwinkelt wie die Schachzüge der Politik, es hat etwas klandestines. Man meint, es müsse immer noch die Geheimfächer unter den Fensterbrettern geben, die Türen ohne Klinke oder die Lastenfahrstühle, mit denen Illegale weggeschafft werden können. Tagsüber werden Farcen gespielt. Nachts, wenn alle gegangen sind, spuken die Verhungerten, Erschlagenen und Erschossenen, die mit dem blauen Auge und den schmutzigen Händen im Haus herum.

Annett Gröschner

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