Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Uhren ticken anders am Hackeschen Markt

Beobachtungen aus einer „Non-Stop-Neighbourhood"

Wer den Hackeschen Markt früh morgens auf dem Weg zur Arbeit passiert, kennt das Bild: Während die ersten Geschäfte bereits geöffnet haben, Cafés und Kneipen schon wieder (oder immer noch) Gäste mit Getränken versorgen, kommt es an S- und Straßenbahnhaltestellen mitunter zu interessanten Aufeinandertreffen mit den letzten sich auf dem Nachhauseweg befindenden Nachtschwärmern. Vor wenigen Jahren nachts fast ausschließlich Berliner Szenegängern vorbehalten, entwickelt sich der Hackesche Markt mehr und mehr zur Amüsementmeile von nationalem Rang, deren Besuch vielen Berlin-Touristen ähnlich obligatorisch erscheint wie der der Reichstagskuppel oder des Potsdamer Platzes. Der Hackesche Markt „droht" Inbegriff des Nachtlebens der Hauptstadt der (Spaß-) Republik Deutschland zu werden ­ Risiken und Nebenwirkungen eingeschlossen.

Neben der viel diskutierten Kommerzialisierung und Gentrifizierung der Gegend ­ Ausdruck eines durch die Immobilienbranche definierten, extrem reduzierten Urbanitätsbegriffs ­ verdient ein weiterer Prozeß eine nähere Betrachtung: die Ausdehnung von Zeiten der Aktivität vor Ort.

Denn, während in der Friedrichstraße jeden Abend nach Ladenschluß die Bordsteine hochgeklappt werden, tobt in weiten Teilen der Spandauer und Rosenthaler Vorstadt noch das Leben. So ist in den Hackeschen Höfen, deren aufwendige Sanierung 1997 wesentlich zu dieser Dynamik beitrug, allabendlich Betrieb: Im Buchladen läßt sich bis spät in den Abend einkaufen. Die beiden Theater bieten Mitternachtsvorstellungen, das Kino zeigt seine letzten Filme um 0.45 Uhr, und die Cafés, Kneipen und Clubs machen meist erst dann zu, wenn der Letzte gegangen ist. Dabei beschränkt sich das Phänomen der Ausdehnung von Zeiten der Aktivität keinesfalls auf die Höfe, das touristische Zentrum der Gegend. Und es läßt sich ebenfalls nicht auf die klassischen Gastronomie- und Clubeinrichtungen reduzieren. Auch viele der Selbständigen, Galerien, Kultureinrichtungen, Agenturen und Produktionsfirmen am und um den Hackeschen Markt haben unstetige und atypische Öffnungs- bzw. Arbeitszeiten. Es scheint geradeso, als ob nur die zurückhaltende Vergabe von Ausnahmegenehmigungen das Gebiet davor bewahren würde, in noch viel stärkerem Ausmaß als heute eine Rund-um-die-Uhr-Aktivität zu entfalten: Der Hackesche Markt ist, wie Studenten der TU Berlin im Rahmen eines Studienprojektes feststellten, der Vorreiter einer Non-Stop-Aktivität im städtischen Gefüge Berlins.

Städtisches Leben jenseits der klassischen Arbeits- und Öffnungszeiten geht mit der zunehmenden Sehnsucht nach „Urbanität" und „europäischer Stadt" einher, ebenso wie der Wunsch nach einer Vielfalt an Nutzungen. Die-se vielgepriesene Nutzungsmischung wird am Hackeschen Markt aus zwei Gründen auf eine harte Probe gestellt. Erstens führt die Popularität des Gebietes und die dadurch enorm gestiegene Nachfrage des Büromarktes zu einer häufigeren Umnutzung von Wohnraum und zweitens stellt sich mit der wachsenden Ausdehnung von Zeiten der Aktivität die Frage, inwieweit sich die unterschiedlichen Nutzungen miteinander vertragen. Denn während die Bewohner der Hackeschen Höfe mittels einer Sperrung des Durchgangs zur Sophienstraße versuchen, nächtliche Störungen zu lindern, sind die Anwohner der angrenzenden Straßenzüge einer ähnlichen Problematik ausgesetzt ­ ohne die Möglichkeit zu haben, sich durch gußeiserne Tore vor den nächtlichen Erlebnishungrigen zu schützen.

Der Bezirk nimmt sich zumindest indirekt des Themas an. So wird versucht, die Ansiedlung von Kneipen mit Hilfe eines „Kneipen-Bebauungsplans" bewohnerverträglich zu regeln. Auf die massive Verkehrsbelastung (alleine ca. 14000 Autos passieren täglich den Hackeschen Markt) reagierte der Bezirk mit einer ab 2002 und bis in die Nacht geltenden(!) Parkraumbewirtschaftung ­ d.h., daß das Parken hier auch nachts Gebühren kosten wird. Auch weiterführende Verkehrsberuhigungskonzepte werden diskutiert.

Unabhängig von der Wirkung solcher Maßnahmen macht die Frage der Verträglichkeit einer Ausdehnung von Zeiten der Aktivität das Spannungsfeld zwischen Chance und Risiko deutlich, dem Innenstädte ausgesetzt sind: Dem Bedürfnis nach Ausdehnung von Zeiten der Aktivität Rechnung zu tragen und gleichzeitig die Verträglichkeit für die innerstädtische Wohnbevölkerung zu gewährleisten – ein schwieriges, aber nicht unmögliches Unterfangen. Ein Blick nach Italien, dem Vorreiter in puncto Zeitplanung bzw. -politik, könnte wertvolle Anregungen leisten. In zahlreichen Großstädten wird dort versucht, die zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen zu erhöhen und dabei die Interessen der Anwohner zu wahren. Bemerkenswert ist die räumliche Ausdifferenzierung vieler Maßnahmen, die auf stadtteilspezifische Erfordernisse eingehen und die unterschiedliche „Rhythmik" der verschiedenen Teilräume einer Stadt erkennen und bewahren.

Berlins stadträumliche Heterogenität hat mit dem bunten Muster an kiezeigenen Rhythmen bereits jetzt ein ebenbürtiges Äquivalent. Von Italien lernen hieße, diese Verschiedenheit lokaler Zeitidentitäten als Potential zu begreifen und im Interesse der sich wandelnden Bedürfnisse weiter auszubauen. Im Rahmen der beschränkten gesetzlichen Möglichkeiten könnte es dabei zu einer flexibleren Handhabung zeitlicher Restriktionen kommen. Probleme der Verträglichkeit wie im Falle des Hackeschen Markts sollten dabei im Dialog gelöst werden, an anderer Stelle könnten zeitliche Restriktion verschärft werden. Darüber hinaus bedarf es einer gesellschaftspolitischen Debatte zum Thema der „Zeiten der Stadt" (Ulrich Mückenberger). Einer Debatte, die über die Frage nach Öffnungszeiten und Verträglichkeitsproblemen hinausgeht und die Ursache, die Pluralisierung von Lebensentwürfen und individuellen Zeitbudgets, miteinbezieht. Wer dagegen den Wandel der Bedürfnisse ignoriert oder ­ bezogen auf den Hackeschen Markt ­ das Bedürfnis nach nächtlicher Aktivität etwa durch einseitige Restriktionen zu unterbinden sucht, öffnet dem Ruf nach totaler Deregulierung Tür und Tor.

Johannes Novy

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