Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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40 Jahre, 4 Generationen

Übersetzung des Titeltextes

Seit einem Jahr feiert man in Deutschland 40 Jahre türkische Einwanderung.

Zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen, Konzerte, Gespräche und Lesungen dienen dazu, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig und bedeutungsvoll der historische Moment des ersten Anwerbeabkommens ist. Einer dieser Veranstaltungsorte ist das Kreuzbergmuseum, wo einst Ex-Bürgermeister Momper nach der Eröffnungsfeier von türkischen Kids angegriffen und krankenhausreif geprügelt wurde.

Wie die Zeit vergeht:40 Jahre sind vergangen und keiner hat was bemerkt. Anfang der sechziger Jahre sind die ersten türkischen Gastarbeiter, die die demütigenden Gesundheitskontrollen der deutschen Ärzte überstanden hatten, am Münchner Hauptbahnhof mit einer bayerischen Kapelle empfangen worden. Damals brauchte Deutschland immer mehr Arbeitskräfte; in der Türkei dagegen fehlten Arbeitsplätze. Aus dieser Not entstand eine Lösung.

Die Grundidee beider Seiten war folgende: Wenn die Arbeit getan ist, sollten die Gastarbeiter wieder nach Hause zurückkehren. Theoretisch war alles okay. Aber nach ein paar Jahren fingen die Gastarbeiter an, ihre Familien nach Deutschland zu holen. Kind und Kegel, Onkel, Tante, Neffe, Schwager ... In 20 Jahren ist die Zahl der Gastarbeiter um mehr als das Zwanzigfache gestiegen. Keiner wollte mehr zurück. Sie wollten nicht nur hierbleiben, sondern auch ihre Existenz nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Aus dieser Situation heraus entstanden neue Wörter und Begriffe wie Aufenthalt, Arbeitserlaubnis, Visum, Scheinehe, Scheinliebe, Scheinarbeit, Scheinasylant, Abschiebehaft, illegal etc. ­ und zwei berühmte Sätze: „Arbeitskräfte gerufen, Menschen sind gekommen!" (Max Frisch); der zweite Satz stammt von Helmut Kohl, dessen Sohn inzwischen mit einer Türkin verheiratet ist: „Den Ausländern, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, muß die Rückkehr erleichtert werden. Jeder Mensch hat das Recht, in seiner Heimat leben zu dürfen."

Die Türken sind nicht nur mit zahlreichen Familienmitgliedern gekommen, sie brachten auch ihre Eßkultur mit. Döner- und Köftebuden, Gemüseläden, Restaurants, Hochzeitsindustrie: Schnickschnack, Schmuck, Make up etc.

Heute leben in Deutschland ca. 2,5 Mio Menschen mit türkischer Abstammung. In Berlin über 200000. Ein immer größerer Teil von ihnen nimmt die deutsche Staatsangehörigkeit an. Die erste Generation, die immer noch gebrochen Deutsch spricht, hat ihre Enkelkinder, die nur Deutsch sprechen wollen, die Türkei nur als Urlaubsland kennen und als ihre Muttersprache Deutsch angeben. Heutzutage trifft man die Türken nicht nur in Ghettos, sondern auch von den Republikanern bis zur PDS in allen möglichen Parteien, im Bundestag, in der Handelskammer, bei Film und Theater, bei der Polizei, sogar bei den Einheiten der Bundeswehr, die kein Schweinefleisch essen und ihr Freitagsgebet machen wollen.

Allein in Berlin gibt es ca. 100 Moscheen, mindestens so viel Koranschulen, einen Friedhof, wo die toten Gastarbeiter islamisch begraben werden, ein Theater, wo künstlerische Prinzipien begraben werden, einen Sender, wo Türkisch eher Mürkisch klingt und mehrere Tausende Gewerbetreibende, die zum größten Teil mit Essen und Trinken zu tun haben, also im Gastronomiebereich tätig sind. Viele Türken meinen mit Stolz: „Wir haben den Deutschen Auberginebraten und Knoblauchsauce beigebracht!'' Die Deutschen haben in diesen 40 Jahren nur „Yavaæ yavaæ!'' zu sagen gelernt.

In den letzten Jahren wurden die Türken auch von der deutschen Industrie als Zielgruppe entdeckt, erst die Banken und Versicherungsfirmen, dann die Kaufhäuser stellten immer mehr Türken ein, damit die türkischen Kunden in Deutschland sich wie zu Hause fühlen und mit gutem Gewissen Geld ausgeben können. In diesem Sinne sind die deutschen Unternehmer sehr gastfreundlich.

Obwohl in Berlin das türkische Theater mit 99 Stühlen kleiner als alle anderen ist und bis jetzt noch keine Bedeutung erlangen konnte, zeigt türkisches kullturelles Leben trotz der Sparpolitik des Senats eine ernstzunehmende Entwicklung. Fatih Akin und Thomas Arslan im Film, in der Literatur Akif Princci, Zehra Çjrak, Feridun Zaimoœlu und E. Sevgi Özdamar, sie haben sich in der multikulturellen Gesellschaft etabliert.

Die neuen Generationen leben bewußter als ihre Eltern und wollen nicht mehr zwischen zwei Stühlen sitzen. Sie begreifen sich selbstverständlich als kultureller Reichtum dieser Gesellschaft, nicht als Sündenbock zurückgebliebener Politiker mit Doppelmoral.

lçjn Baykul

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